Immer Weihnachten?

Die Sitzung dauert. Jetzt schon zwei Stunden. Absatzzahlen der Jahreskalender des nächsten Jahres. Seit einer halben Stunde macht sich die ganze Runde Gedanken, wie der Absatz angekurbelt werden könnte, damit möglichst die ganze Auflage verkauft werden kann. Gute Ideen sind gefragt, weil - niemand weiss warum - der Umsatz der Abreisskalender mächtig eingebrochen war. Eine kleine Pause zum Lüften, einige Schritte hin und her.

Dann noch das letzte Traktandum: Kalenderplanung für das übernächste Jahr! Eine gewisse Routine schleicht sich ein. Es geht weder um ein Schaltjahr noch um eine Kalenderreform - und die periodischen Schaltsekunden haben keine Auswirkungen auf das Kalenderwesen. Also alles wie immer: 365 Tage, aufgeteilt in 12 Monate mit 28, 30 oder 31 Tagen, die Sonntage farbig hervorgehoben - die einen mit dem Sonntag als Wochenanfang, die andern mit dem Montag als ersten Wochentag. Nicht mal die KalendermacherInnen konnten sich darauf einigen, wann genau die Woche anfängt. Und immer genau die gleichen sieben Wochentage in ganz der genau gleichen Reihenfolge, und das ganze seit hunderten von Jahren - wenn es denn die Firma schon so lange geben würde.

Plötzlich wird es laut an einer der Tischseiten, natürlich, wie könnte es anders sein, genau dort, wo jetzt die KollegInnen von der Kreativabteilung die Köpfe zusammenstecken.

He, was habt Ihr, Ihr stört, und dann wird die Sitzung noch länger, ruft Rolf, der Chef der Druckerei, mit einem strengen Blick auf seine Uhr.

Nach noch mehr Getuschel wird es langsam ruhiger, und Mireille, die Praktikantin aus dem Gestaltungsbüro, meldet sich zu Wort.

Wir möchten mal was anderes, wir möchten mit der Tradition brechen und einen ganz neuen Kalender produzieren. Unsere erste Idee: Ein Kalender mit 365 Blättern, und auf jedem steht "24. Dezember" - also das ganze Jahr Weihnachten! Denn: je näher Weihnachten kommt, desto mehr verändert sich die Stimmung überall. Zwar gibt es viel Gehetze und Stress, damit alles noch fertig wird im Alten Jahr. Plötzlich liegt eine andere Stimmung in der Luft, es wird ein bisschen feierlicher, es wird mehr gelächelt. Und wenn das nicht geht, dann benennen wir alle Monate einfach zu Dezember um.

Es wird ganz ruhig im Sitzungszimmer. Die Chefs schauen sich verstohlen um - wie wenn sie sich ziemlich anstrengen müssten, nicht laut herauszulachen.

Regula, die Geschäftsleiterin, fasst sich als erste. Mireille, Deine Vorschläge tönen zwar super, aber ich glaube nicht, dass unsere Kundinnen und Kunden das möchten. Sie erwarten von einem Kalender, dass er eine ganz strikte Ordnung in den Lauf der Zeit bringt, dass vor allem der Kalender des Nachbarn, der Kalender der Kollegin im Osten, Westen, Süden oder Norden zur gleichen Zeit das gleiche Datum zeigt. Roman, der Verkaufsleiter, ergänzt: tja, und jeden Tag Weihnachten, das führt vielleicht dazu, dass sich die Menschen Unsinniges wünschen. Christiane von der Spedition murmelt vor sich hin: ja, dann wünschen sich die Banker täglich neue Superrenditen, und die kommen bekanntlich nur von ganz normaler Arbeit.

Aber, fragt Mireille nach, könnten wir nicht wenigstens die Wandkalender für die Kinder so machen? Rolf, der weise Grossvater, lächelt sanft dazu. Schön wärs, doch leider reichen die Weihnachtsmänner und Christkindchen im ganzen Universum nicht, um diese Wünsche zu erfüllen.

Also gut, ich sehe es ein, aber ich lass mir was einfallen.

* * *

Acht Monate später. Mireille hat ihr Praktikum schon seit einiger Zeit abgeschlossen. Vor wenigen Tagen wurden die neuesten Jahreskalender ausgeliefert. Roman öffnet eines der vielen während der Geschäftsleitungssitzung eingetroffenen Mails.

Wir bedanken uns für die prompte Lieferung der Jahreskalender für das nächste Jahr. Eine kreative Idee haben Sie gehabt, und diese wird sicher auch den Kundinnen und Kunden gefallen: jeder 24. mit einem feinen Sternenmuster, welches bis zum 24. Dezember immer intensiver wird - da kommt jeden Monat wenigstens für einen Tag ein bisschen Weihnachtsstimmung auf! Diese Kalender werden wir zuvorderst ins Regal stellen und bitten deshalb um sofortige Nachlieferung.

Im Verlauf der Woche treffen viele weitere ähnliche Mails ein. Roman leitet die gesammelten Reaktionen an die Kolleginnen und Kollegen von der Geschäftsleitung weiter. Kurze Zeit später kommt ein Mail von Rolf an alle.

Da hat uns Mireille etwas eingebrockt. Das "Gut zum Druck" musste mitten in den Sommerferien erteilt werden, und es war gerade niemand von der Geschäftsleitung anwesend. Das hat sie ausgenutzt - und im letzten Moment noch auf der Harddisk diese Sterne darunter gemischt. Wenn jemand in unserer Firma je einen Bonus verdient hat, dann sicher sie! Ich werde mich um ein grosszügiges Weihnachtsgeschenk für Mireille kümmern, mit einem ganz speziellen Geschenkpapier.

Und so geschah es auch.


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Die Grusskarte setzt sich zusammen aus Farbflecken, die ausgewählt wurden aus den Fotografien von Toni W. Püntener aus dem Jahr 2008 - für jeden Tag des Jahres steht symbolisch ein Farbquadrat, zufällig angeordnet: bei jedem Seitenaufruf entsteht ein anderes Bild!
Die meisten der Ausgangs-Bilder sind auf der Bildergalerien-Seite zu finden.