Von Eseln und HolzfällernNinolo, welche Vorsätze hast Du Dir für das neue Jahr vorgenommen? Ninolo ist Geschichtenerzähler. Seit dem Sommer ist er fast jeden Tag auf einem der ruhigsten Plätze der Stadt anzutreffen, wo er Geschichten erzählt. Laufend wurde der Kreis der Zuhörerinnen und Zuhörer immer grösser. Seit Ninolo für einen Beitrag in der grössten Tageszeitung der Stadt befragt worden war, kamen noch mehr Menschen auf den ruhigen Platz. Ein Geschichtenerzähler in der heutigen Zeit? Gratiszeitungen, Internet, Radio, Fernsehen – die Menschen waren bestens informiert über all das, was in der Welt gerade geschah. Und doch standen Menschen Tag für Tag in kleineren und grösseren Kreisen um Ninolo herum, hörten gespannt zu, zehn Minuten, eine Viertelstunden, manche auch eine halbe Stunde oder mehr, obwohl immer wieder gesagt wurde, Zeit sei Geld. Ninolo war von der Interviewerin gefragt worden, warum er so erfolgreich sei als Geschichtenerzähler, als einziger und erster Geschichtenerzähler in der Stadt. Die Antwort von Ninolo war auch schon fast wieder eine Geschichte. Ninolo erzählte aus der Familiengeschichte, erzählte von Vorfahren aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die von Stadt zu Stadt zogen und die Menschen über das damalige Zeitgeschehen informierten, immer durchflochten von Geschichten. Er habe diese Tradition wieder beleben wollen, im Wissen um die seither eingetretenen Veränderungen. Von Generation zu Generation der GeschichtenerzählerInnen sei eine einfache Regel weitergegeben worden: Du kannst erzählen, was Du willst, aber es muss unterhaltsam sein. Nun, an diese jahrhundertealte Empfehlung halte er sich, und es freue ihn, wenn sich dieses Rezept auch heute noch bewähre. Ich habe Deine Frage nicht gut gehört, kannst Du sie bitte nochmals wiederholen? Gerne, Ninolo. Also, welche Vorsätze hast Du Dir für das neue Jahr vorgenommen? Danke, Martin, für Deine Frage. Wie jedes Jahr habe ich mir vorgenommen, Euch noch besser zu unterhalten. Und das ist alles? Ja, braucht es denn noch mehr? Die Runde schmunzelt. Einerseits über die offensichtliche Enttäuschung, die aus der Nachfrage von Martin herauszuhören war, andererseits darüber, dass sich Ninolo nicht provozieren liess. Martin, ich sehe Dir an, dass Du nicht zufrieden bist mit meiner Antwort. Dann will ich Dich noch ein bisschen unterhalten. Du hast sicher erwartet, dass in meiner Geschichtenkiste etwas liegt, dass Dir bei der Suche nach guten Vorsätzen weiterhilft. Genau so ist, sagt Martin, und nickt dazu. Vorsätze zielen ja darauf ab, dass Menschen sich klug entscheiden und klug verhalten wollen. Da können die Geschichtenerzähler tatsächlich einiges bieten. Ihr kennt sie sicher, die Geschichte, die ich Euch erzählen werde, und sie wird in der ganzen Welt seit grauen Vorzeiten erzählt. Ein Bauer und sein Sohn gingen auf den Viehmarkt, um sich einen Esel zu kaufen. Hodscha - so nennt eine der häufig erzählten Varianten den Vater – und sein Sohn machten sich nach dem erfolgreichen Abschluss des Handels zusammen mit dem Esel auf den Heimweg, jeder auf seinen Füssen. Einer aus ihrem Dorf, der ihnen entgegenkam, lachte sie aus. Da habt Ihr einen Esel, und keiner von Euch reitet darauf? Die beiden wünschten dem Nachbarn einen schönen Tag. Weil Hodscha das Gehen gefiel, setzte sich der Sohn auf den Esel. Nur kurze Zeit darauf kam ihnen der nächste Nachbar entgegen. Dieser schimpfte mit dem Sohn, weil er doch den älteren Vater reiten lassen solle. Aufgrund dieser Vorhaltungen wechselten also Vater und Sohn den Platz. Kurz darauf kam ihnen ein Fremder entgegen, schimpfte auf den Vater ein, was dieser doch für ein Rohling sei, seinen schwächlichen Sohn neben dem Esel herlaufen zu lassen, während er als kräftiger Vater auf dem Esel sitze. Bevor sich Hodscha für das Kompliment bedanken konnte, war der Fremde kopfschüttelnd weitergezogen. Nach einer kurzen Beratungsrunde setzten sich nun beide auf den Esel, und dieser trottete mit dieser Last Schritt für Schritt voran. Es wird Euch nicht überraschen, aber kurz darauf kam wieder ein Reisender des Weges, schüttelte bedenklich den Kopf, bevor er schimpfend Vater und Sohn anklagte, diesen schwächlichen Esel zu sehr mit ihrem Gewicht zu belasten. Auch er zog weiter seines Weges. Nun entschlossen sich Vater und Sohn, den Esel an eine Stange zu binden und ihn dann nach Hause zu tragen. Sie schulterten also das rund zweihundert Kilogramm schwere Tier für das letzte Stück des Heimweges. Weil es jetzt schon etwas später war, kam ihnen niemand mehr entgegen, und es überholte sie auch niemand, um verbunden mit einer neuen Schimpftirade weitere Varianten vorzuschlagen. Einer meiner Vorfahren hat sich an dieser Stelle jeweils gefragt, warum eigentlich der Esel, einer der Hauptbeteiligten, nichts zu dieser Geschichte zu sagen hat. In seinen Vorstellungen hat sich an dieser Stelle der Esel gemeldet. Insbesondere hat er sich über die unbequeme Lage beschwert. Es wäre besser, Vater und Sohn würden ihn wieder losbinden und ihn frei laufen lassen. Er werde ihnen hinten nach laufen und hin und wieder ein Kräutlein, welches er besonders schätze, ausrupfen. Und er bitte sie, einmal im Monat, am besten in einer Vollmondnacht, die Tür zu seinem Stall offen zu lassen und ihn nicht anzubinden. Wenn er es recht habe bei ihnen, werde er am Morgen wieder im Stall stehen. Da Esel bekanntlich nicht reden können, hat leider diese Erweiterung, auch wenn sie noch so gut erfunden ist, in dieser Geschichte leider keinen Stammplatz erhalten. Darum geht es jetzt original weiter. Erst als Vater und Sohn nach langer Zeit ziemlich erschöpft zu Hause ankamen, holten sie die guten Ratschläge wieder ein. Die Ehefrau von Hodscha - von ihr ist kein Vorname überliefert – schüttelte ebenfalls den Kopf, schimpfte immerhin nicht, weil ihr der neue Esel gefiel und einiges an Arbeitserleichterung versprach. Sie fragte allerdings eher ungehalten, warum denn Vater und Sohn den Esel nicht selber zu seinem neuen Stall laufen liessen. Als dann Hodscha und der Sohn abwechslungsweise vom Heimweg berichteten, schüttelte sie hin und wieder den Kopf, wusste aber nicht, ob sie sich mehr über ihren Mann und ihren Sohn oder über all die ratgebenden Reisenden aufregen sollte. In Wikipedia ist die Erzählung vom Heimweg mit dem Esel als Beispiel für ein Polylemma zu finden. Damit sind Situationen gemeint, bei denen aus mehr als zwei Möglichkeiten ausgewählt werden kann, wobei keine der Lösungen schlechter oder besser als die andere ist. Da bringen auch Empfehlungen von aussen keine wirkliche Verbesserung. Und genau darum will ich Euch mit meinen Geschichten in erster Linie unterhalten. Wenn Ihr als meine Zuhörerinnen und Zuhörer daraus für Euch Lehren ziehen wollt, wenn Ihr daraus Vorsätze ableitet, dann ist das Euere Sache. Die Runde murmelt Zustimmung. Fabienne meldet sich. Da gibt es doch aber die Geschichte mit dem Holzfäller mit der stumpfen Säge, da würdest doch auch Du eine Empfehlung abgeben wollen. Fabienne, für alle, die die Geschichte mit dem Holzfäller nicht kennen, übernehme ich hier. Da ging einer an einem kalten Wintertag im Wald spazieren. Er kam an einer kleinen Lichtung vorbei. Ein Holzfäller war an der Arbeit. Der Spaziergänger schaute eine Weile zu. Dabei stellte er fest, dass die Säge stumpf war, die Arbeit also nicht so gut vorankam. Guter Mann, setzte er an, als der Holzfäller kurz verschnaufte, guter Mann, Ihre Säge ist völlig stumpf, Sie sollten Ihre Säge so rasch als möglich schärfen. Der Mann schaute kurz auf, stöhnte dann, dass er dazu keine Zeit habe, weil er Sägen müsse. Gelächter brandet auf in der Runde der Zuhörerinnen und Zuhörer, die einen schüttelten den Kopf, die andern schienen dem Ratschlag des Spaziergängers zuzustimmen. Ninolo erhob wieder die Stimme. In den Lehrbüchern über Effizienz ist an dieser Stelle die Geschichte zu Ende. Wir Geschichtenerzähler haben etwas weitergeforscht und dabei das Ende der Geschichte herausgefunden, vielleicht haben wir ja auch, was wir hin und wieder tun, dieses Ende erfunden. Eine halbe Stunde, nachdem der Spaziergänger kopfschüttelnd weitergezogen war, fuhren vier Polizeifahrzeuge mit Blaulicht in den Wald. Zehn Polizisten umringten den Holzfäller. Dieser liess sich ohne Gegenwehr festnehmen. Die Polizisten eröffneten dem Holzfäller, er sei verhaftet, weil er die Bäume ohne Bewilligung fälle. Bei den späteren Abklärungen ergab sich, dass der Mann von seinem Vorgesetzten beauftragt worden war, so schnell als möglich die Bäume zu fällen, um den Bauplatz für eine grössere Wohnüberbauung vorzubereiten. Was der Auftraggeber verschwieg, und was der Holzfäller aufgrund der Berichterstattung in den Zeitungen vermutete: das Bauvorhaben war wegen eines Rechtsverfahrens blockiert, es durfte also noch nicht mit Bauen begonnen werden. Mit seiner stumpfen, nicht effizienten Sägerei sorgte der Holzfäller also für Aufmerksamkeit, die die Polizei auf den Platz rief, ohne aber zu viel Schaden am Baubestand anzurichten. Deshalb beliessen es die Behörden bei einer Ermahnung des Auftraggebers. Wäre der Holzfäller schneller vorangekommen, hätte es eine empfindliche Busse gegeben. Daraus meine Schlussfolgerung: wer andern einen Rat gibt, sollte die ganze Geschichte kennen. Fabienne meldet sich wieder. Danke für diese Empfehlung, die eigentlich auch schon wieder ein Vorsatz sein könnte! Ich wollte mich zuerst beschweren, dass Deine Geschichten von Eseln und Holzfällern handeln, also von Dingen, die mit dem Alltag der meisten Menschen nichts bis wenig zu tun haben. Aber ob Esel oder Computer, der Umgang mit Aufgaben, die viele Facetten haben, ist uralt, und es gibt keinen einzig richtigen Weg im Umgang mit solchen Polylemmata, und darum auch keine einfachen Lösungen, keine schnellen Vorsätze. Damit, meinte Ninolo abschliessend, hast Du den Schlusspunkt hinter diese Geschichte gesetzt. |
Die Grusskarte setzt sich zusammen aus Bildausschnitten, die in irgend eine Form mit Sonne zu tun haben. Diese Ausschnitte wurden ausgewählt aus einzelnen Fotografien von Toni W. Püntener aus den Jahr 2013 - bei jedem Seitenaufruf entsteht ein anderes Bild! Weitere Geschichten sind zu finden unter geschichten.umweltnetz.ch. |