Relativismus und Grenzen der Toleranz

Das Interview mit dem „Religionskritiker“ Michael Schmidt-Salomon im Auto-Anzeiger (früher Tagesanzeiger) vom 28.12.2010 ist nicht wegen der Religionskritik bemerkenswert, sondern wegen des Aufrufs zur Intoleranz – da stimmt Schmidt-Salomon mit dem heutigen Papst Benedikt XVI überein, welcher noch vor seiner Wahl vor der „Diktatur des Relativismus“ warnte! Allerdings ist das sehr zeitgeistig und nicht zukunftsführend, denn allüberall in der Welt berufen sich Machthabende darauf, dass ihre Willkür über der Willkür anderer stehe.

Im „religionskritischen“ Teil des Interviews findet sich eine durchaus lesenswerte Sicht auf die konfessionelle Religionsrealität, mit amüsanten Zügen, wenn etwa der Religionskritiker eine Wandlung des Gottesbildes wahrnimmt und er diese Wandlung schon fast ablehnt (vielleicht darum, weil Herr Schmidt-Salamon dann seine Vorurteile neu gruppieren müsste?). Spannend wird es, wenn Michael Schmidt-Salomon die Bedeutung der Aufklärung dermassen betont, dass er Grenzen der Toleranz errichtet haben möchte, wenn aus seiner Sicht wichtige Errungenschaften der Aufklärung in Frage gestellt werden. Grundsätzlich teile ich die Einschätzung, dass es in einer „globalisierten“ Gesellschaft unverhandelbare Grundhaltungen geben muss. Wenn nun ein „Religionskritiker“ und der oberste Kirchenmann der katholischen Konfession zu gleichen Schlüssen kommen, ist dies bemerkenswert und von hoher Relevanz – die Kritik an der „Diktatur des Relativimus“ und die Forderung nach Grenzen der Toleranz sind definitiv identische Forderungen. Allerdings könnte dies auch bedeuten, dass die Aufklärung im Sinne von Herrn Schmidt-Salamon nur denkbar ist im Rahmen des christlichen Kontext!

Michael Schmidt-Salomon ortet denn auch ein diesbezügliches Defizit beim Islam: dieser habe nicht die Dompteurschule der Aufklärung durchlaufen. Auch wenn ich wieder im grundsätzlichen Sinn der Aussage von Schmidt-Salomon zustimme, dass (Zitat) Humanismus und Aufklärung nicht als binneneuropäische Errungenschaften, sondern als zentrale Bestandteile des «Weltkulturerbes der Menschheit» (Ende Zitat) zu betrachten sind, so hilft dies zwar grundsätzlich, aber nicht im Alltag weiter. Als ein Beispiel: die universellen Menschenrechte, aus dieser humanistisch-aufklärerischen Sicht entstanden, werden gerade etwa von ExponentInnen des Islams nicht akzeptiert, es gibt islamistische Formulierungen der Menschenrechte, für die VertreterInnen des Islams ebenfalls universelle Gültigkeit beanspruchen.

Dies heisst: „Grenzen der Toleranz“ ist zwar eine wichtige Forderung, sie führt aber zu einer Blockierung der Situation, weil eben jede Kultur ihre Toleranzgrenzen an völlig anderen Orten hat. Letztlich geht es dabei um die Machtfrage, insbesondere um individuelle Macht, es geht um Gesichtswahrung, ebenfalls überwiegend im individuellen Bereich.

Einige neuere Beispiele illustrieren dies deutlich: während „der Westen“ die BürgerrechtlerInnen in China unterstützt, was etwa zum Friedensnobelpreis für Liu Xia führte, wird in China das Wahrnehmen von etwa in Europa selbstverständlichen staatsbürgerlichen Rechten als Kriminalität eingestuft und entsprechend bestraft. Selbst humanistisch-aufklärerisch geprägte Gebiete sind sich in bedeutsamen Fragen, etwa der „Todesstrafe“, nicht einig – im Falle der im Iran zum Tod durch Steinigung verurteilten Sakineh Mohammadi Ashtiani konzentrierte sich somit die Kritik auf die vogegesehene Tötungsart „Steinigung“ und nicht auf die „Todesstrafe“ an und für sich. Die USA führt (etwa mit Drohnen) „illegale“ Tötungen durch – selbst gegen den Wikileak-Aktivisten Julian Assange wurde zumindest von einzelnen Exponenten diese „Problemlösungsstrategie“ in Diskussion gebracht. Dabei hat Wikileaks nur darauf aufmerksam gemacht, dass insbesondere die in den USA praktizierte Weltpolitik deutlich von der humanistisch-aufklärerischen Grundhaltung abweicht. Ebenso weisen die ungleiche globale Verteilung der ökologischen Fussabdrücke und des Reichtums (mit Schwerpunkten des Übermasses in den sich als humanistisch-aufklärerisch gebenden Weltgegenden) darauf hin, dass offenbar die unverhandelbaren Grundhaltungen der humanistisch-aufgeklärten Kultur nicht wirklich zu einer nachhaltigen Entwicklung führen! Die Zechprellerhaltung einer Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten bei der Anti-Minarett-Initiative oder der Ausschaffungsinitiative weisen darauf hin, dass diese unverhandelbaren Werte offenbar nicht in ausreichendem Ausmass verinnerlicht sind.


Auch wenn ich mich wiederhole: eine Hilfe könnte dabei der Ansatz des Weltethos darstellen – dieser ist durch den katholischen Theologen Hans Küng, der zwar von der Hierarchie ausgegrenzt wurde und wird, massgeblich geprägt worden. Ja, es gibt diese letztlich unverhandelbaren Grundwerte, und wahrscheinlich gehen sie über das hinaus, was humanistisch-aufklärerisch entstanden ist. Klar ist: Toleranz ist nur MIT Grenzen zu haben!

Hier zum wiederholten Mal die 8 Grundhaltungen des Weltethos:

  • Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau

Auch diese Grundhaltungen des Weltethos sind noch nicht alltagstauglich – es braucht noch einiges an Grips, wie solche Grundsätze in einer Welt, die mehrheitlich nicht durch europäisch/christlichen Humanismus und die damit verbundene Aufklärung geprägt ist, umgesetzt werden können. Persönlich habe ich den Eindruck, dass es nützlicher wäre, menschliche Energien in diese Richtung arbeiten zu lassen statt beispielsweise Religionen zu kritisieren. Letztlich interessieren nur Beiträge zur Förderung eines nachhaltigen Zusammenlebens auf der ganzen Erde, unabhängig von Religionen und anderen Weltanschauungen!