Selbst eine sich als pluralistisch gebende Gesellschaft braucht ein Minimum an gemeinsamen Zielen, auch wenn diese allenfalls nicht mit sämtlichen individuellen Vorstellungen der Gesellschaftsbeteiligten übereinstimmen. Sehr schnell sind dann selbst Menschen, die von sich behaupten, eine eigene Meinung zu haben, mit Vorwürfen wie „Bevormundung“ (z.B. Juli Zeh im Tages-Anzeiger vom 28.12.2011), „Erziehungsstaat“ (z.B. Norbert Hochreutener in Journal21 vom 24.12.2011) oder „weitere Umerziehungsaktionen“ (z.B. die FDP-Gemeinderäte Dr. Urs Egger und Roger Tognella in einer Anfrage an den Stadtrat zum Klimazmittag) zur Hand.
Es hat mir niemand vorzuschreiben, wie ich in die Stadt fahre. – Schweizer Fleisch! Der Rest ist Beilage. – Das Verbot von Glühbirnen ist ein Eingriff in die persönliche Freiheit. – Rauchen in der Öffentlichkeit ist ein bürgerliches Recht. – Wer schön, sportlich und gesund sein will, hat weniger Zeit und Geld, um gute Bücher zu lesen, ins Theater zu gehen und unseren Kindern die beste Bildung zu schenken. – Mit dem PSA-Test kann verhindert werden, dass zahlreiche Männer an Prostatakrebs sterben. – Der PSA-Test ist wenig zuverlässig und kann Komplikationen wie Inkontinenz oder Impotenz zur Folge haben. – Wer kontrolliert eigentlich, was für ein Strom da wirklich als Solarstrom eingespeist und abgerechnet wird?
Diese nur redaktionell bearbeiteten Zitate könnten beliebig vermehrt werden. Unsere Gesellschaft behauptet, eine aufgeklärte Informationsgesellschaft zu sein. Der Satz „Jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten.“ von Daniel Patrick Moynihan beschreibt die Problematik der Haltung sehr gut: solche Meinungen müssen tatsächliche eigene Meinungen sein, aber trotzdem auf möglichst vielen und nachvollziehbaren Fakten beruhen.
In der Schweiz gibt es sehr wenige emotionale öffentliche Themen. Gesundheit ist ein solches, ebenso die Ernährung – was objektiverweise Schnittmengen ergibt. Auch das Auto fahren gehört in diesen emotionalen Komplex.
Schweizer Fleisch! Der Rest ist Beilage. ist ein Werbespruch von Proviande, der Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft. „Fleisch und Wurstwaren eher zurückhaltend“ ist die Empfehlung der Ernährungsfachleute. Nun, die Werbekampagne für Fleisch hat Erfolg: pro Person wurde im Jahr 2010 2.3 % mehr Fleisch gegessen als 2009, etwas mehr als ein Kilogramm pro Woche, während Ernährungsfachleute 300 bis 600 Gramm empfehlen. Dass auch Milchprodukte und Eier mit Fleisch zusammenhängen, ist klar, und dass es eine Vielzahl weiterer Gründe für einen mässigen Fleischkonsum gibt, ebenso (siehe etwa Gesucht. Teilzeit-Vegis!). Mit einigen weiteren Faktoren ist die Ernährung eine prägende Bestimmungsgrösse der sogenannten Zivilisationskrankheiten. Die Frage ist ganz einfach: gehört es zu den Rechten der Menschen in einer Gesellschaft, sich so zu verhalten, dass diese Zivilisationskrankheiten mit einer hohen, individuell unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit auftreten? Oder ist es gerade in einer aufgeklärten Informationsgesellschaft selbstverständlich, dass die Beteiligten mit einem bunten Strauss von Massnahmen – von Information und Motivation über Anreize bis zu Vorschriften – in ihrem Wohlergehen unterstützt werden?
Der Hinweis auf Proviande ist keinesfalls zufällig – ich hätte auch auf die immensen Anstrengungen der Tabakindustrie zur Verhinderung von Rauchverboten und abschreckenden Zigarettenpackungen hinweisen können. Es ist davon auszugehen, dass bei vielen derartigen Fragestellungen in erster Linie aus Marktinteressen von einer Vielzahl von Interessengruppen die Fakten zumindest zurechtgebogen wenn nicht gar hochgradig manipuliert werden. Wer „das bisschen Übergewicht“ nicht weiter dramatisch findet, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Opfer der direkten und indirekten Marketinganstrengungen der Nahrungsmittelindustrie geworden! Aus der behaupteten „Bevormundung“ wird also einAkt des KonsumentInnenschutzes.
„Global denken, lokal handeln“ gehört zu den erfolgsversprechenden Ansätzen für die Lösung globaler Probleme in demokratischen Gesellschaften. „Lokal“, damit ist letztlich jede einzelne Person gemeint; gefordert ist also zivilgesellschaftliches Handeln. Persönliche Willkür – welche sich durchaus etwa aus Marketing- und anderen Manipulationsansätzen ergibt – kann Erkenntnissen über die Handlungsnotwendigkeit im Wege stehen.
Dass etwa Vorschriften über den Speisezettel eines Menschen aufgestellt werden, ist kaum vorstellbar. Andererseits kann es auch nicht angehen, dass ein erheblicher Teil der Menschen – in direkter Kooperation mit der Nahrungsindustrie – wissenschaftlich akzeptierte Ernährungsgrundsätze ignoriert.
Die beiden Zitate zum PSA-Test illustrieren ebenfalls diese Problematik. „Wissen ist Macht“ – auch dies gehört zur Informationsgesellschaft. Bei der vom „Swiss Medical Board“ in Gang gebrachten Diskussion ist davon auszugehen, dass es auch um erhebliche finanziellen Interessen geht. Dazu passt einmal mehr das amerikanische Tea Party-Beispiel zum Klimawandel: selbst wenn man sich dazu durchringen könnte, einzusehen, dass es einen Mensch gemachten Klimawandel gibt, wären Klimaschutzmassnahmen nicht angezeigt. Denn: erstens lässt sich weiterer Profit aus dem Verkauf fossiler Energien ziehen – zweitens sind gemäss den Untersuchungen von Nicolas Stern Klimawandelfolgenanpassungsmassnahmen fünf mal teurer als Klimaschutzmassnahmen, und dürften damit eine stärkere Zunahme des BIP zur Folge haben. Im übrigen eine Argumenation, die nicht nur in Europa von einem überwiegenden Anteil der Bevölkerung als ausgesprochen zynisch interpretiert wird.
Die eigene Meinung ist zwar ein guter Ansatz. Was allerdings z.B. Juli Zeh, Norbert Hochreutener, Urs Egger oder Roger Tognella (siehe einleitender Absatz dieses Blogbeitrags) betreiben, kann nicht wirklich als eigene Meinung verstanden werden, weil sich diese Positionen nicht oder nicht ausreichend umfassend an den Fakten orientieren.
Die aufgeklärte Gesellschaft erfordert die bedingungslose Berücksichtigung der Goldenen Regel der Ethik, etwa in der Interpretation des Kantschen Imperativ: tue andern nur das an, was Du bereit bist zu akzeptieren, wenn andere es Dir antun. Ich bin sehr gespannt, wie jener Online-Stammtischler, der den Satz Es hat mir niemand vorzuschreiben, wie ich in die Stadt fahre. im Internet plaziert hat, die goldene Regel der Ethik nicht nur bei diesem Beispiel interpretiert.
Zur Abrundung: Frau Juli Zeh sieht zwar bei den Stillempfehlungen und den Ernährungs- und Bewegungs-Ratschlägen zum idealen Körpergewicht bevormundende Ansätze, verteidigt aber das Impfobligatorium – obwohl es auch bei diesem Thema Menschen gibt, die ein solches – etwa wegen der Bevormundung, aber auch mit sachlichen Argumenten – ablehnen. Ein Beweis mehr für die individuelle Willkür der Argumentation von Frau Zeh …