Günter Grass hat sich gegen das Schweigen und für das Dichten entschieden. Er kritisierte das Verhalten des Staates Israel – und damit auch das der „Verbündeten“ Israels – gegenüber dem Staat Iran. Da für viele der Staat Israel synonymisch für die jüdische Glaubensgemeinschaft steht, wurden die gewählten Worte des deutschen Nobelpreisträgers in einem Teil der Weltgemeinschaft als antisemitisch kategorisiert. Schweigen oder Dichten kann nicht die letzte Aussage bleiben.
Der Tagesanzeiger interviewt in der Ausgabe vom 13. April 2012 den iranischen Botschafter in der Schweiz, Alireza Salari. Ein solches Interview ist kaum ein spontanes Interview, jede Aussage kommt sehr geschliffen daher, wirkt ausdrücklich für westeuropäische Augen und Ohren konstruiert – Alireza Salari und/oder die iranische Propaganda-Abteilung wirken analytisch und argumentativ stark – es werden Sachverhalte dargestellt, die über Schweigen oder Dichten hinausgehen.
Alireza Salari nennt die israelische Regierung systematisch „Regime“, er bezeichnet die iranische Staatsform geradezu als mustergültige, von der iranischen Mehrheit so gewollte Demokratie, entstanden als Reaktion auf das vom Westen unterstützte despotische Regime des Schahs und seiner Armee.
Bereits Günter Grass hat die versteckte und geheime Atomwaffenpolitik Israels, welche von der IAEA nicht überprüft wurde, angesprochen. Der iranische Botschafter in der Schweiz interpretiert die dauernd zunehmenden Anforderungen der IAEA als Wirken der westlichen Hegemonialmächte.
Der iranische Botschafter Alireza Salari analysiert und argumentiert klug. Doch: es bleibt Propaganda – Propaganda ist es auch, was wir von Israel hören – und seit den Lügen der USA im Zusammenhang mit Irak muss die Weltöffentlichkeit davon ausgehen, dass vieles, was von weiteren Staaten gesagt wird, ebenfalls aus den PR-Abteilungen stammt. Fakt ist, dass seit dem Ende des zweiten Weltkrieges auch in den Gebieten des nahen und mittleren Ostens mindestens ein kalter Krieg mit unregelmässigen massiven Gewaltexzessen führt. Die Weltöffentlichkeit realisiert, dass die Zukunftsaussichten von Millionen von palästinensischen Flüchtlingen seit Generationen ungeklärt sind – trotz völkerrechtlich absurder doppelter Existenzsicherung des Staates Israel gibt es Bevölkerungsteile, die die Existenz des Staates Israel nicht akzeptieren. Dramatisch an der Situation ist, dass in der Tendenz eher eine Eskalation der Gewalttätigkeiten wahrzunehmen ist. Oder anders: so kann es eigentlich nicht weiter gehen, derzeit ist die Situation alles andere als lösungsorientiert. Festzustellen ist, dass in den Stellvertretungsschauplätzen dieses Konflikts – z.B. Irak oder Afghanistan – keine nachhaltigen Ansätze von gesellschaftlicher Entwicklung erkennbar sind.
Die Einschätzungen des demokratischen Status von Israel und Irans durch den iranischen Botschafter Alireza Salari sind Propaganda – der Demokratieindex von The Economist beurteilt die real existierende Staatsform Iraels mit 7.53 (von 10) Punkten als „unvollständige Demokratie“, während Iran mit 1,98 (von 10) Punkten als „autoritäres Regime“ gilt.
Auch wenn Iran gemäss den Worten seines Botschafters in der Schweiz das Recht beansprucht, autonom über die Energieversorgung zu bestimmen, gibt es keine zwingende Notwendigkeit für die Erstellung und den Betrieb von iranischen Atomkraftwerken – dazu mein Blogbeitrag Iran: Verzicht auf Atomenergie ist zukunftsgerichtet! aus dem Jahr 2006! Ein echter Ausstieg der Schweiz aus der Atomenergie kann durchaus Beispielwirkung haben.
Aber: das iranische Argument, Iran müsse die Atomenergie nutzen können, wenn dies andere Staaten auch tun könnten, ist völkerrechtlich durchaus beachtenswert, auch wenn über die dazugehörigen Bedingungen (z.B. IAEA-Überwachung) zwischen Iran und den „Hegemoniemächten“ (siehe oben) keine Einigkeit besteht. P.S. Das Thema iranische Atomwaffen ist von aussen extrem schwierig zu beurteilen, einmal mehr mit den US-Lügen vor dem 2. Irak-Krieg – aber letztlich braucht es auch hier den Verzicht sämtlicher Staaten auf Atomwaffen.
Die internationale Staatengemeinschaft hat wahrzunehmen, dass mit der bisherigen gewaltorientierten Machtpolitik seit dem 2. Weltkrieg bis anhin im nahen und mittleren Osten keine nachhaltigen Lösungen erreicht wurden. Auch wenn es umständlich und mühsam ist – und es immer wieder zu Störungen durch absurde und absolute Forderungen kommt, sind auch für den nahen und mittleren Osten Lösungen anzustreben, die auf ein Neben- und Miteinander, auf Gleichbehandlung, auf Gewaltverzicht, auf demokratische Verbesserungen und auf Existenzrechte für alle Menschen und Volksgruppen aufbauen. Alle Beteiligten müssen endlich wahrnehmen, dass Kritik an ihrem Verhalten nicht als Gegnerschaft zu interpretieren ist, sondern als Denkbeitrag für die Weiterentwicklung der derzeit als ausweglos erscheinenden Situation. Es ist davon auszugehen, dass nur kleine Schritte aller Beteiligten eine Entwicklung in Richtung einer dauerhaften Lösung ermöglichen, aber gleichzeitig dafür gesorgt werden muss, dass jene, die den ersten Schritt tun, nicht als „Verlierer“ daherkommen.
Nicht schweigen ist für die Weiterentwicklung der gesellschaftlichen und politischen Formen im nahen und mittleren Osten zwingend – es gibt sicher auch andere Formen als die Dichtkunst!