Alles-Behaupti-Cheib-und-nüd-Bewiisi-Siech

Eine Pausenrunde in einem Büro. Es wird über eine Energie-Vorlage an der nächsten Abstimmung diskutiert. Ich argumentiere lebhaft und überzeugt. Aber offenbar nicht überzeugend! Ein Kollege meint plötzlich: „Du Alles-Behaupti-Cheib-und-nüd-Bewiisi-Siech – das glaub ich Dir nicht“. – Die Diskussion ist vorbei, die Pause auch.

Nun, ich konnte am nächsten Tag meinem Kollegen „beweisen“, dass meine „Behauptung“ stimmte. Für mich als damals jungen politisch motivierten Ingenieur war dies einer der vielen guten Erfahrungen. Der nicht nur fachlich, sondern auch energie politisch interessierte Ingenieur – heute würde ich dem anderns sagen – war damals eine neue Sache. Es war die Zeit der Atomkraftwerke, es war auch die Zeit der ersten Erkenntnisse über die Grenzen des Wachstums. Es war die Zeit, als sich das „Papsttum“ eines Michael Kohn abzuzeichnen begann, durchaus auch in Vorwegnahme eines Herrn Blochers: nichts zu sagen, dies aber eloquent und druckreif. Die Politisierung zumindest eines Teils der IngenieurInnen war zwingend: die Energiethematik ist nicht nur eine technische Frage, es geht eminent auch um gesellschaftspolitische Fragen. Spätestens die Diskussion über den Mensch gemachten Klimawandel illustriert dies treffend. Die Atomenergie-Nutzung ist prinzipiell anti-demokratisch, und spätestens mit dem eigenartigen Vorschlag der deutschen Bundesregierung für ein Energiekonzept, welches aus nicht nachvollziehbaren Gründen eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke vorschlägt, muss man sich fragen, ob es allenfalls direkte Verbindungen zwischen der Atomwirtschaft und dem organisierten Verbrechen gibt.

Energiepolitik ist eigentlich ziemlich einfach – zumindest aus Sicht der Energiewirtschaft. Man kann aus der Vergangenheit ableiten, wie sich der Energieverbrauch zukünftig etwa verhalten wird, nämlich als plausible Weiterschreibung – und man hat die Techniken, darunter Atomkraftwerke, die zur Abdeckung dieses Bedarfs erforderlich sind. Dass all diese Techniken zu mehr oder weniger erheblichen Eingriffen in Gesellschaft und Umwelt führen, wird zu Teil immer noch ausgeblendet. Michael Kohn, der das Wirtschaften im Kleidergeschäft seines Vaters gelernt hat, hat dies ganz einfach formuliert: die Energiewirtschaft hat dies zu liefern, was die KundInnen wollen, und dies ist Strom – er hat dabei allerdings ausgeblendet, dass Kleider nicht einfach Kleider sind – eine Hose eignet sich beispielsweise schlecht als Hemd, und eine rote Bluse ist etwas anderes als eine bunt gemusterte Bluse. Auf den Strom bezogen: Strom aus dem Naturemade star-zertifizierten Wasserkraftwerk Höngg des ewz ist zwar physikalisch Strom wie der Strom aus einem Kernkraftwerk, zum Beispiel in Tschernobyl oder Three Mile Islands, aber es gibt da neben den physikalischen Stromeigenschaften auch noch andere relevante Qualitäten, die Auswirkungen auf den Kaufentscheid haben.

Diese qualitativen Unterschiede können belegt werden – man kann Fakten dazu auf den Tisch legen – beweisbare Behauptungen.

Es gibt beweisbare Behauptungen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der bewussten Wahl der Stromqualität und der effizienten Nutzung des Strom – KäuferInnen von Oekostrom nutzen in der Regel den Strom auch effizienter. Das lässt sich belegen. Nur: auch zeigen lässt sich, dass effiziente Technologie auch zu einer Steigerung des Energieverbrauchs führen kann, dies wird als Rebound- oder Backfire-Effekt bezeichnet. Und dies führt dann zu Vortragstiteln wie „Suffizienz statt Effizienz“ (Florian G. Kaiser, Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg)! Als Fan von LOVOSLifestyle Of Voluntary Simplicity – schlage ich vor, dass es anstelle von „oder“ „und“ heissen muss: Suffizienz UND Effizienz.

Klar ist: hier wird im Wissen um die eigene Unzulänglichkeit versucht, nach bestem Wissen und Gewissen einen zukunftsgerichteten Beitrag zum gesellschaftspolitischen Diskurs zu leisten.

In diesem Kontext ist es auch möglich, die Diskussion über den Mensch gemachten Klimawandel konstruktiv zu führen: Da es angesichts der Begrenztheit des menschlichen Denkvermögens unmöglich ist, mit absoluter Sicherheit den direkten Bezug zwischen menschlichem Handeln und den Veränderungen des Klimas zu belegen, ein solcher Zusammenhang aber mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, geht es letztlich darum, der Gesellschaft eine Politik vorzuschlagen, die dazu führen dürfte, dass die Folgen dieses sehr wahrscheinlich Mensch gemachten Klimawandels für die Menschheit beherrschbar bleiben – insbesondere, wenn damit weitere Nutzen verbunden sind. Angesichts diverser Untersuchungen – zum Beispiel die Studie „How rich is the 2000-Watt-Society“ – und der vermuteten geringen Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung ist nicht nachvollziehbar, wie vehement in der Schweiz etwa FDP und SVP sich gegen eine proaktive Politik im Sinne einer Versicherungsprämie wehren.

Ein kleines Beispiel: Da unterstützt das Gesundheits- und Umweltdepartement der Stadt Zürich die WWF-Aktion „KlimaZmittag„. Die Mitarbeitenden werden ermuntert, am 14. September 2010 fleischlos zu essen, denn ein vegetarisches Menü verursacht im Durchschnitt etwa dreimal weniger CO2-Emissionen als eine fleischhaltige Mahlzeit. Diese harmlose Aktion führt im Gemeinderat der Stadt Zürich prompt zu einer Anfrage der FDP-Gemeinderäte Dr. Urs Egger und Roger Tognella. Von „Vorschreiben einer Lebensweise“ und „weiteren Umerziehungsaktionen“ wird hier geschrieben. Nur schade, dass diese FDP-Vertreter ihr Amt nicht in Bremen ausüben – da gilt nämlich sogar die Devise „einmal in der Woche auf Fleisch verzichten„, die beiden könnten somit jede Woche ihre Uneinsichtigkeit mit einer neuen Anfrage belegen. Offenbar waren Herr Egger und Herr Tognella noch nie im vegetarischen Restaurant Hiltl, sonst wüssten sie, wie geschätzt die vegetarische Küche auch in Zürich ist. Und diese Restaurantgäste verhalten sich erst noch so, wie es eigentlich die FDP möchte: eigenverantwortlich! Als Zitat: Den Verzehr von Fleisch- und Milchprodukten einzuschränken und landwirtschaftliche Produktionsmethoden anzupassen, würde die globalen Emissionen von Treibhausgasen deutlich vermindern. (Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Juni 2010).

Nun, Ignoranten und Zechpreller gehören nun mal zur Gesellschaftspolitik, das gehört zum Alltag, also zwar befremdlich, aber bewältigbar.


Erschreckend, wenn nicht gar unbeschreiblich ist ein weiteres, wahrscheinlich uraltes Phänomen. In neuerer Zeit gehörte der frühe US-Präsident George W. Bush zu den eifrigen Förderern dieses Ansatzes, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Krieg um Oel gegen den Irak. Die Begründung für diesen Krieg gegenüber der Weltöffentlichkeit waren offensichtliche und absichtliche Lügen: der damals mächtigste Mann scheint sich nicht um die Glaubhaftigkeit seiner Argumente zu kümmern, er zimmert sich nach Lust und Laune Argumente zusammen, die gerade zum aktuell herrschenden Opportunismus passen.

Klar ist: diese Beliebigkeit ist mit wenig Aufwand verbunden! Und da in einer rational denkenden, von der Aufklärung mitgeprägten Gesellschaft – mit Bezug auf eine durch und durch falsch verstandene Meinungsäusserungsfreiheit – selbst mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit falsche Argumente zur Diskussion beitragen dürfen, haben noch so absurde Einwände Einzelner unterdessen in dieser Gesellschaft mehr Bedeutung als sorgsam erarbeitete, mit Fakten hinterlegte Begründungen, die aus einem aufwändigen Prozess mit These, Antithese und Synthese hervorgegangen sind. Offensichtlicher Unsinn dient immer häufiger als gesellschaftlicher Wegweiser!

Ein zentraler Aspekt dabei: die individuelle subjektive Wahrnehmung einer Einzelperson steht über faktenbasierten Kenntnissen. Sehr illustrativ sind in dieser Hinsicht die Kommentargefässe in Online-Medien. Was etwa in den 400-Zeichen-Kommentaren der TA-Online-LeserInnen zu finden ist, liegt regelmässig deutlich tiefer als die offensichtlichen Dummheiten des früheren US-Präsidenten George W. Bush. Uninformiertheit (und dies in einer Informationsgesellschaft!), Leseschwäche, argumentative Dürftigkeit sind Standard bei diesen Kommentaren – zu befürchten ist allerdings, dass angesichts der aktuellen Trends im (bezahlten) Online-Journalismus das Niveau der Medieninhalte zukünftig deutlich unter dem heutigen Niveau der KommentarschreiberInnen liegen wird.

Es mag tatsächlich sein, dass die Ereignisse in Zusammenhang mit 9-11/WTC 2001 nicht für jeden Stammtischler zugänglich sind. Es mag Ungeklärtheiten bei den offiziellen Untersuchungen geben. Es ist nicht zweckmässig, aus diesen Vorfällen die Argumente für einen Krieg gegen den Terror oder gegen „Schurkenstaaten“ abzuleiten (um damit den „Krieg für Öl“ zu tarnen). Daraus aber systematisch abzuleiten, hinter allem und jedem stecke Verschwörungstheorie, ist definitiv und endgültig DUMM DUMM DUMM (und dies im Wissen darum, dass Dummheit nicht verboten ist, dass aber Einsteins Spruch „Zwei Dinge sind unendlich: Das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir noch nicht sicher.“ darauf anzuwenden ist). Ein exemplarisches Beispiel solcher Dummheit ist WE ARE CHANGE (mit Absicht nicht verlinkt) – „Al’Kreida“ als Motto, um am 11.9.2010 mit Kreide die Verschwörungstheorie-Dummheiten weltweit auf Plätzen anzukreiden. Die Dummheit lässt sich exemplarisch illustrieren: Ausgangspunkt sind die etwa hunderttausend Verschwörungstheorien um 9-11 und die Forderung nach einer Abklärung nach der Wahrheit zur Geschichte dieser Anschläge. Dass das Verhalten des damaligen amerikanischen Präsidenten – selber Erfinder diverser Verschwörungstheorien – Raum geboten hat dafür, ist prinzipiell nachvollziehbar. Wenn nun WE ARE CHANGE auch den Mensch gemachten Klimawandel zu diesen Verschwörungstheorien schlägt, schlägt die Dummheit voll zu: Herr Bush ist definitiv ein Climate Criminal, zählt also zu den Miterfindern der Verschwörungstheorien zum Klimawandel! WE ARE CHANCE entstand wegen diverser Aussagen Bushs rund um 9-11, und dafür wirbt WE ARE CHANGE für die abstrusen Theorien von Herrn Bush und seiner KollegInnen, welche den Mensch gemachten Klimawandel ablehnen. Da muss sich offenbar ein Tippfehler eingeschlichen haben – WE ARE CHANGED trifft es eher. Dummköpfe waren schon immer leicht zu manipulieren!

So war Meinungsäusserungsfreiheit mit Sicherheit nicht gemeint! Ebenso geht die Aufklärung, geht die Rationalität von einem zu idealisierten Menschenbild aus.