Das Zürcher Rathaus ist ein Denkmalschutzobjekt – obwohl völlig ungeeignet für den heutigen Ratsbetrieb von vier Parlamenten. Aber dieses Haus ist geschützt. Nicht einmal die Sicherheitserfordernisse dürfen Veränderungen an diesem „Heiligtum“ bewirken. Einzig der Gleichstellungsaspekt des Behindertengesetzes brachte kräftige Veränderungen im Rathaus und beim Portal Richtung Limmatquai. Genau dieses Denkmalschutzobjekt muss Anlass dazu bieten, über den Denkmalschutz nachzudenken.
Das Rathaus ist zuerst ein Erinnerungsstück an eine aristokratische Gesellschaft, die zuerst von den Auswirkungen der französischen Revolution weggefegt werden musste. Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit kommen also in diesem Gebäude noch nicht zum Ausdruck. Mit Müh und Not wurde im 19. Jahrhundert ein Balkon eingebaut, damit wenigstens die Oeffentlichkeit der Ratssitzungen ermöglicht werden konnte.
Aus eigener Erfahrung von drei Jahren Kantonsratssitzungen (und bald drei Jahren Synode) sage ich klar: dieser Saal ist ungeeignet für einen konstruktiven Ratsbetrieb. So musste beispielsweise akustische Technik eingebaut werden, damit man sich überhaupt einigermassen versteht. Lange enge Sitzreihen mit schmalen Tischchen prägen das Bild – es gibt keinen Platz, um Unterlagen verwenden zu können. Auch für Computer, in Zeiten des papierreduzierten Büros von Bedeutung, können nicht ergonomisch korrekt benutzt werden. Wenn jemand – zum Beispiel für eine informelle Absprache mit anderen Ratsmitgliedern – den Sitzplatz verlassen möchte, müssen in der Regel zwei bis vier KollegInnen aufstehen und den/die KollegInnen mit Gemurkse passieren lassen. Diese Form ist der Konkordanz wirklich nicht förderlich. oder anders: das Ratshaus ist alles andere als demokratiefördernd. Dass Präsentationen in der Regel nicht möglich sind, ist nicht zwingend ein Nachteil. Auch wenn ein Bild mehr sagt als tausend Worte, wären wahrscheinlich die typischen Folienorgien dem Ratsbetrieb nicht zuträglich. Zudem: wie die kleinen Monitore des elektronischen Abstimmungssystems zeigen, ist mit der aktuellen Längsanordnung der unbequemen Sitzreihen eine gute Position für eine Projektionsleinwand kaum zu finden.
Braucht es denn überhaupt ein Rathaus? Wäre es nicht besser, wenn die Parlamente durch den Kanton respektive im Falle des Gemeinderates durch die Stadt reisen würden und ihre Sitzungen jeweils in einem der vielen öffentlichen oder privaten Seminarlokalitäten abhalten? Auch wenn in der Schweiz Parlamentsentscheide durch die Stimmberechtigten über den Haufen geworfen werden können, ist es rein emotional durchaus von Bedeutung, dass Parlamente einen „Heimatort“ haben – die demokratischen Institutionen sollen durchaus sichtbar sein. Allerdings: wenn man die parlamentarische Tätigkeit ernst nimmt, muss auch der Ratssaal den heutigen Erfordernissen entsprechen. Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: ein Ersatzneubau am gleichen Standort, oder ein spezifisch auf die Ratsbedürfnisse ausgerichteter und flexibler neuer Ratssaal (kann auch in einem bestehenden Gebäude sein).
Ein Ersatzneubau an diesem Standort hätte im übrigen Tradition: 1252 und 1397 entstanden Vorgängerbauten, das heutige Rathaus wurde 1698 eingeweiht – mit mehr als 300 Nutzungsjahren hat man diesem Gebäude sicher alle Ehre angetan und seinen Wert gebührend respektiert. Bei allem Verständnis für jene, die historische Bauten als physische Erinnerungsdenkstücke brauchen (hoffentlich haben sie dabei nicht das Bedürfnis, auch andere „Errungenschaften“ der damaligen Zeit zu erhalten): es ist an der Zeit, anstelle des Ratshauses ein neues, zeitgemässes „Haus der Demokratie“ zu errichten, durchaus mit dem Anspruch, an dieser Stelle etwas zu bauen, dass nicht gerade für die Ewigkeit, aber doch für eine längere Nutzungsdauer angelegt ist. Auch wenn in Stadt und Kanton Zürich grosse Würfe, durchaus im Sinne der zwinglianischen Bescheidenheit, einen schweren Stand haben: wenn es nicht gelingt, in einem demokratischen Rechtsstaat ein neues „Haus der Demokratie“ zu schaffen, welches wir auch der verantwortungsbewussten Weiternutzung zukünftiger Generationen übergeben können, hat diese unsere Demokratie ein gröberes Problem! Gerade die Legislativen von Kanton und Stadt Zürich sollten ja in der Lage sein, aus ihrer verantwortungsvollen Arbeit für das Wohlergehen des kantonalen und kommunalen Gemeinwesens ein Minimum an gemeinsamen Positionen erarbeiten zu können, die ein solches Haus prägen könnten!
Auch wenn ein anderer Standort für einen Ratssaal durchaus denkbar wäre: was würde dann mit dem „alten“ Rathaus passieren? Es ergäbe einfach eines jener verstaubenden Ballenberg-Versatzstücke mehr, ohne Sinn, ohne eigentlichen Nutzen, selbst wenn beispielsweise die vereinigten Denkmalbehörden von Bund, Kanton und Stadt darin ihre Arbeitsplätze einrichten würden.
Deshalb: es gibt so oder zu viele Denkmäler aus Stein statt in den Köpfen. Deshalb ist es Zeit, den erstarrten Ratssaal der Geschichte zu übergeben und mit einem neuen „Haus der Demokratie“ zumindest den Parlamenten von Kanton und Stadt Zürich neue Impulse zu geben. Denn gerade Legislativen sollten nicht die Vergangenheit kultivieren, sondern die Gesellschaft auf wohl überlegten Wegen in die Zukunft führen!