Mathematik bietet unbestrittenermassen wertvolle Instrumente, wenn es darum geht, Sachverhalte auf diesem Planenten zu erforschen und zu erklären. Mit ihrer langen, sehr langen Tradition gehört die Mathematik zu den kulturellen Leistungen der Menschheit. Wenn Schweizer MaturandInnen schlecht in Mathematik sind, ist dies allerdings eher ein Hinweis auf den massiv ungeeigneten Mathematik-Unterricht. Dieser Unterricht muss viel stärker in die Alltagsrealität einbezogen werden.
Als ich die Matura zu bestehen hatte, konnten erstmals Taschenrechner eingesetzt werden an der Maturaprüfung. Nur: es hat den Rechner schlicht nicht gebraucht zur Ablegung der Prüfung! Mit einfachen Kopfrechnungen und vielen theoretischen Ueberlegungen war diese Prüfung allerdings anspruchvoller als das Prüfen mechanistischer Fähigkeiten beim Handausrechnen komplizierter Berechnungsvorgänge.
Ich hab in meiner Ingenieur-Ausbildungszeit und auch an Weiterbildungen sehr viele Mathematik-Lektionen absolviert. Und ich brauche nach wie vor sehr intensiv mathematische Elemente in meiner Alltagsarbeit. Trotzdem: vieles der Mittelschulmathematik hat wenig bis gar nichts mit der Alltagsrealität auch anspruchsvoller technischer Arbeiten zu tun. Die Frage ist berechtigt: wie viel Nutzen vermag die aktuelle Mittelschulmathematik für den realen Berufsalltag der zukünftigen ExpertInnen zu stiften?
Wenn ich den aktuellen Mathematik-Unterricht in den Mittelschulen betrachte, fällt mir etwas auf: der Computer scheint nicht zu existieren. Selbstverständlich ist es wichtig, die „Geheimnisse“ beispielsweise einer linearen Regression zu kennen, damit dieses Hilfsmittel sinnvoll verwendet werden kann. Nur: Tabellenkalkulationsprogramme bieten „Trend“-Funktionen als Standard in verschiedener Ausprägung an. Und dies ist nun mal die Realität: wenn ich am Arbeitsplatz Daten analysiere, steht mir standardmässig eben auch eine Tabellenkalkulationssoftware zur Verfügung.
Es ist nun ziemlich billig, wenn die Bildungsverantwortlichen auf die schlechte Botschaft der schlechten Mathe-Kenntnisse der MaturandInnen mit der Absicht reagieren, einfach die Prüfungsanforderungen heraufschrauben zu wollen. Es ist eine blödsinnige Aussage, wenn gerade MathematikerInnen immer wieder behaupten, es gäbe nun mal Menschen mit unterschiedlicher Begabung für Mathematik, und dies als Begründung dafür heranziehen, warum auch der Mathematikunterricht an Mittelschulen in erster Linie an potentiellen MathematikstudentInnen ausgerichtet ist. Meine Erfahrung ist hier eine ganz andere: Mathematikabneigung wird geradezu durch den Mathematik-Unterricht gefördert – die sprichwörtliche Arroganz der Mathe-Genies ist nicht gerade die ideale Anfangsvoraussetzung, auch für Mathematik-Normal- und -Wenigbegabte die Faszination der Mathematik wirklich erschliessen zu können. Oder anders: warum fallen immer wieder gerade Mathematik-Lehrkräfte durch pädagogisches und didaktisches Ungeschick auf? – Vorbildliche Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Die Alltagsweisheit auch hier dazu: für den Lernerfolg sind nur in zweiter Linie die Grundvoraussetzungen der SchülerInnen massgebend. Entscheidend sind Vermittlungsklima und Begeisterungsfähigkeit der Lehrpersonen. Denn: der Mensch als im Kern neugieriges Wesen ist fasziniert von den Geheimnissen, die die Mathematik erschliessen kann. Es ist allerdings davon auszugehen, dass gerade der Mathematikunterricht an Mittelschulen diese Grundneugier nicht aufnehmen kann.
Fazit: der Mathematikunterricht an den Mittelschulen darf sich nicht überwiegend an die Mathematik-Talente richten, sondern hat dafür zu sorgen, dass ein grosser Teil der MaturandInnen Mathematik als Hilfsmittel versteht, die beitragen, alltägliche Phänomene besser zu verstehen – und dass es darum geht, mit diesen Kenntnissen Lösungen für Zukunftsherausforderungen zu finden. Auch dabei kann und soll und muss die alte Kunst Mathematik eine wichtige Rolle spielen.