In der Demokratie wird üblicherweise von den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative gesprochen. Entscheidend ist die Selbstständigkeit dieser drei Gewalten – dies wird als Gewaltenteilung bezeichnet. Die Medien reklamieren für sich den Status als vierte Gewalt. Das funktioniert allerdings nicht: Medien sind nicht gewählt, sondern bezahlt. Medien sind in der Verfassung nicht genannt. Medien beanspruchen einzig das Recht auf Meinungsfreiheit, ohne allerdings die damit verbundenen Pflichten zu kennen oder sie gar zu respektieren. Nur: Demokratien brauchen zwingend eine Balance von Rechten und Pflichten!
Es gab in den letzten Jahren einige Mediengeschichten, die ziemlich intensiv hochkochten – bei den meisten davon stand der ominöse Satz «Es gilt wie immer die Unschuldsvermutung». Spätestens dann wird klar, hier haben Medien über etwas berichtet, wo Schweigen angesagt wäre! Denn mit diesem ominösen Satz wird angezeigt, dass eine der ordentlichen Instanzen der Demokratie, nämlich die Judikative, mit diesem Sachverhalt zu beschäftigten haben wird. Dieser Satz steht häufig bei Boulevard-Themen, also jenen aus den Rubriken «Unglücksfälle und Verbrechen» und «Sex sells». Da geht es immer um Menschen, die vor herausfordernden Situationen im zwischenmenschlichen Umgang gestanden haben – Situationen offenbar, für die das bisherige Leben keine ausreichende Schule war, wo also gesellschaftliches Lernen versagt hat!
Hier berichten die Medien aus der «Hören-Sagen»-Perspektive. Sie nehmen dabei – bewusst oder unbewusst – die Position eines der betroffenen Menschen ein. Situativ hat gewonnen oder verloren, wer schweigt, also nicht zu Wort kommt. Spannend dabei: Die öffentliche Meinung ist dadurch gemacht. Selbst aufwändige Justiz-Verfahren können diese vorgefasst öffentliche Meinung kaum mehr beeinflussen, oder anders, der ominöse Satz «Es gilt wie immer die Unschuldsvermutung» geht schlicht vergessen.
Im Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit» erzählt Yuval Noah Harari unter anderem von der weit zurückliegen Epoche, als die «Sapiens» die kognitive Revolution durchliefen. Demnach halten Klatsch und Tratsch «natürliche Gruppen» von maximal 150 Personen zusammen – dies sei die magische Obergrenze der natürlichen Organisationsfähigkeit der «Sapiens». Die Mediengeschichten aus dem Boulevard-Bereich sind objektiv betrachtet Klatsch und Tratsch, weil da echte und vermeintliche «ZeugInnen» über ihre Wahrnehmungen berichten (was nichts mit Meinungen respektive Meinungsfreiheit zu tun hat, denn dies betrifft nur Fakten). Das heisst aber: sobald Medien mehr als 150 Leserinnen erreichen, ist auf Klatsch und Tratsch zu verzichten, weil sich ausserhalb der «natürlichen Gruppe» von maximal 150 Personen Klatsch und Tratsch verselbstständigen. Zur Illustration dienen hier die typischen digitalen Online-Stammtische der Medien.
Ganz einfach: Zwischenmenschliche Herausforderungen haben nichts in den Medien zu suchen – allenfalls als Sachverhaltsbericht, wenn solche Herausforderungen strafrechtlich/juristisch beurteilt worden sind, verstanden als Beitrag zum gesellschaftlichen Lernprozess über den Umgang von Menschen miteinander. Klipp und klar: in der «akuten» Situation einer zwischenmenschlichen Herausforderung haben Medien keine Funktion, schon gar nicht jene der vierten Gewalt.
«Social Media» nennen sich Facebook, Twitter, diverse Blogs und weitere neuere Formen des Informationsaustausches. Da auch diese Medienformen ausserhalb von handhabbaren «natürlichen Gruppen» von maximal 150 Personen stattfinden, hat der zwischenmenschliche Bereich mit allenfalls strafrechtlichen Relevanz auch in diesen Medien nichts verloren. P.S. Auch wenn eine Person z.B. in Facebook weniger als 150 «Freunde» kennt, ist dies keine Legitimation für Klatsch und Tratsch. Denn: da auch «Freunde» von «Freunden» solche Einträge einsehen können, ist die Grenze von 150 Personen trotzdem überschritten. Und da ist sicher jemand dabei, der in einer medialen Sauregurkenzeit direkten Zugang zu konventionellen Medien mit Boulevard-Seiten und/oder -Charakter hat. Dann kann schnell aus einer an und für sich harmlosen und korrekt abgelaufenen Situation ein Skandälchen werden. Oder, auch dazu gibt es ausreichend Beispiele, solche Skandälchen werden von mehr oder weniger wohlwollenden ZeitgenossInnen absichtlich herbeigeführt, weil damit bestimmte persönliche Interessen verbunden sind – medial verbreiteter Klatsch und Tratsch als Kommunikationsstrategie also!
In der Konsequenz bedeutet dies ein hohes Mass an Verantwortung für die nullte Instanz, nämlich jedes Individuum! Auch dies gehört zum gesellschaftlichen Lernprozess im Umgang mit diversen Medienformen.