Mehrheiten

Worin unterscheiden sich die demokratischen Systeme der Türkei und von Deutschland – beispielsweise im Mass der Verfälschung der Meinung der Stimmberechtigten. Während in der Türkei 46.6 % der Stimmen zu 62 % der Mandate führen, ist die Sache in Deutschland etwas weniger krass: mit einem Anteil von 48.4 % der Stimmenden ergeben sich immerhin „nur“ etwas mehr als 53 % der Mandate – Deutschland hat nach den Bundestags-Wahlen vom 27. September 2009 eine Regierung, die nicht die Mehrheit der Stimmberechtigten hinter sich hat, aber trotzdem mit Mehrheit regieren kann. Eine ziemlich eigenartige Interpretation von Demokratie!

Ziemlich eigenartig ist bekanntlich auch die SVP. Persönlich halte ich nichts von der Volkswahl des Bundesrates – es ist für mich zweckmässiger, dass die Exekutive des Landes vom Parlament gewählt wird, also durch eine indirekte Volkswahl. Die Argumentation der SVP-Mehrheit an ihrem Parteikongress vom 3. Oktober 2009 beim Lancierungs-Beschluss zur Volkswahl-Initiative lässt mich allerdings einen Moment zögern: möglicherweise wäre die Volkswahl des Bundesrates die Chance für einen SVP-freien Bundesrat!

Die SVP hat sich mit ihrer Initiative für das Prinzip der Majorzwahl und damit gegen die Proporzwahl entschieden – unter anderem darum, weil die Proporz-Wahlen auch kleineren Parteien einen Sitz ermöglichen würde, also eine wählerInnen-gerechtere Sitzverteilung im Bundesrat bewirken würde. In der Tendenz gäbe dies weniger Sitze für den Klüngel SVP-CVP-FDP, dafür mehr Sitze für SP und Grüne.

Spannend, dass die SVP mit der Verhinderung der Sitze der SP und der Grünen argumentiert – wie diverse Exekutiv-Volkswahlen in Kantonen und Gemeinden zeigen, sind SVP-Kandidaten (die weibliche Form gibt es sehr selten) erstaunlich häufig chancenlos bei Majorzwahlen, obwohl die SVP im Parlament relativ grosse Fraktionen stellen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre etwa Nationalrat Blocher vom Volk NICHT in den Bundesrat gewählt worden.

Gleichzeitig appelliert die SVP im Parlament regelmässig an die Konkordanz, welche in dieser Frage die Respektierung des freiwilligen Proporzes zu gewährleisten hätte.

Einmal mehr: eine konzise Argumentation ist von der SVP nicht zu erwarten – die laute Stimme des immer älter werdenden Autokraten Blocher ist die Windfahne der SVP, an welcher sich die politischen Aktivitäten dieser Partei ausrichten. Eigenartig, sehr eigenartig – ob dies dieser Partei wirklich gut tut? Eine SVP mit einem geringeren WählerInnen-Anteil wäre allerdings für die Schweiz sehr gut: dann müsste beispielsweise die SP endlich wieder mal etwas mehr Eigenständigkeit entwickeln, und könnte nicht länger die Parole „das Gegenteil der SVP“ beschliessen…

Ich bleib dabei: nein, das Geköch der SVP unterschreib ich nicht, und ich halte an der Forderung nach einer Regierungsreform fest!