Minergie-Bashing: lässt sich Tamedia instrumentalisieren?

Gebäude, insbesondere öffentliche Bauten, werden häufig als „prototypische Architektur“ realisiert. In verschiedenen Fachdisziplinen werden komplizierte, teilweise innovative Konzepte entworfen und realisiert. Laut Wikipedia setzt sich der Begriff Prototyp aus den altgriechischen Teilwörtern protos (der Erste) und typos (Urbild, Vorbild) zusammen. Wenn nun Tamedia die zu erwartenden Schwierigkeiten während den ersten Betriebsmonaten solcher neuer Gebäude als Folge des Erfolgsmodells Minergie darzustellen versucht, entsteht der Verdacht, dass sich Tamedia hat instrumentalisieren lassen.

Die Erstellung eines Gebäudes ist ein komplexer Prozess. Es sind unter anderem vielfältige Energie- und Klimaschutzaspekte zu beachten. Während etwa die Wärmedämmung eines Gebäudes als statisches, passives Element betrachtet werden kann, stehen eine grosse Zahl von Haustechnikkomponenten – von Beleuchtung über Heizung/Lüftung bis zur Sicherheitstechnik – in direkter Interaktion mit den Gebäude-NutzerInnen. Diese dynamischen Komponenten beeinflussen sich gegenseitig, zumindest teilweise.

Da der Markt davon ausgeht, Gebäude könnten einfach so genutzt werden (schliesslich haust der Mensch seit der Steinzeit), wird nicht beachtet, dass gerade in Gebäuden mit tiefem Energieverbrauch die NutzerInnen erheblichen Einfluss auf die tatsächlich erreichte energetische Qualität haben – ein Grad weniger Raumtemperatur vermindert etwa den Heizenergieverbrauch um etwa sechs Prozent (siehe dazu mein Blog-Beitrag „Raumkomfort for Dummies„).

Gerade bei neuen Konzepten, bei prototypischen Ansätzen erst recht ist es zwingend erforderlich, dass die NutzerInnen über Eigenheiten eines Gebäudes informiert werden. Es ist davon auszugehen, dass heute gebaute Gebäude mindestens 2 Jahre brauchen, bis sie die „Nutzungsreife“ erlangen – auch bei Softwareprodukten gilt schliesslich der Spruch „Das Produkt reift bei den KundInnen“ oder die Metapher „Bananenprodukt“. Das ist bei Gebäuden definitiv nicht anders.

Die Medien der Tamedia haben in den letzten Wochen in fachlich massiv unqualifizierter Weise über zwei aktuelle Beispiele neuer Bauten (des Kantons Zürich) berichtet: unter dem reisserischen Titel Student fällt in der Gesangsstunde in Ohnmacht mit dem Untertitel „Im täglichen Gebrauch zeigt sich die Kehrseite des Minergie-Standards“ wurde am 1.12.2012 einige Wochen nach Semesterbeginn (also ganz zu Beginn der allgemeinen Lernphase mit diesem Gebäude) über Gerüchte und „Kriminalstories“ aus dem Neubau der Pädagogischen Hochschule an der Europaallee in Zürich berichtet. Kritisiert werden etwa, dass nicht öffenbare Fenster vorhanden sind, es wird stickige Luft bemängelt, während gleichzeitig zu trockene Luft angeführt wird (die Sachkompetenz der Tamedia-Crew zeigt sich darin, dass niemandem der offensichtliche Widerspruch aufgefallen ist: trockene Luft weist auf einen hohen, allenfalls gar zu hohen Aussenluftwechsel hin, während stickige Luft ein Zeichen für einen deutlich zu tiefen Aussenluftwechsel ist, zu dieser Inkompetenz passt auch, dass behauptet wird, es gebe während 8 Stunden keine Frischluft), ebenso wird wegen des Kunstlichts reklamiert. Nicht ganz in diese Reihe passt auch der Ratschlag, genügend zu trinken: es handelt sich dabei um einen allgemeinen Hinweis der Gesundheitsförderung!

Es handelt sich dabei um eine Hochschule – unter anderem wurde hier das Minergie-Label angestrebt. Einige hundert Meter östlich davon stehen die Bauten von ETH und Uni Zürich. Auch dort gibt es eine sehr grosse Zahl von innenliegenden Hörsäälen und weiteren Unterrichtsräumen – ebenfalls mit Kunstlicht, ebenfalls mit Lüftungsanlagen, ebenfalls ohne öffenbare Fenster. Diese Hörsääle sind seit Jahrzehnten in Betrieb, auf alle Fälle deutlich vor den Zeiten des Minergie-Labels. Was ich aber weiss: auch diese Hörsääle und deren technische Einrichtungen werden regelmässig überprüft, es finden technische und energetische Betriebsoptimierungen statt, über die regelmässig in der Fachliteratur berichtet wird. Das ist ganz alltägliches Geschäft, das ist Normalfall, auch wenn das die Skandalmedien des Tamedia-Konzerns noch nicht gemerkt haben! Es gibt also keinen Grund, über die PH-Neubauten in dieser Form zu berichten, und es gibt erst recht keinen Grund, die üblichen Startschwierigkeiten mit Minergie in Verbindung zu bringen.

Zwei Wochen später folgt ein Artikel mit dem Titel Schlechtes Klima im Obergericht und dem Lead „Das 82 Millionen teure Minergie-Haus in der Zürcher Altstadt beschert dem Personal ausgetrocknete Schleimhäute, Juckreiz, Kopfweh und brennende Augen. Wieder sind die gleichen massiv unqualifizierten und damit falschen Fachaussagen zur Thermodynamik der feuchten Luft zu lesen (dauernde Wiederholung macht allerdings die Sache nicht besser). Auch hier geht es wieder darum, dass einerseits die aufgrund des hygienisch erforderlichen Luftwechsels tiefe relative Raumluftfeuchten resultieren bei gleichzeitig hohen Raumtemperaturen, siehe auch dazu mein Blog-Beitrag „Raumkomfort for Dummies“ (auch der wird allerdings durch die wiederholte Zitierung nicht noch besser). Es gibt also keinen Grund, über das Gebäude des Zürcher Obergerichts in dieser Form zu berichten, und es gibt erst recht keinen Grund, die üblichen Startschwierigkeiten mit Minergie in Verbindung zu bringen.


Nun, die Tamedia-Publikationen betreiben seit längerem (ganz im Sinne der Climate Criminals) Bashing bei Energie- und Klimaschutzthemen. Also sind solche Artikel wirklich keine Überraschung.

Allerdings ist bei diesen aktuellen Beispielen zu vermuten, dass die Tamedia-SchreiberInnen von aussen instrumentalisiert wurden. Im Gemeinderat der Stadt Zürich hat die FDP-Fraktion am 28. November 2012 (also einige Tage vor dem ersten Artikel von Tamedia) einen Vorstoss mit dem Titel Auflistung der ökologischen, energetischen und wirtschaftlichen Vor- und Nachteile verschiedener Gebäudestandards bei der Erstellung sowie beim Betrieb eines Bauobjektes eingereicht, welcher darauf abzielt, bei städtischen Bauten, insbesondere Schulhäusern, auf das gemäss den 7-Meilenschritten zum umwelt- und energiegerechten Bauen vorgegebene Einhalten des Minergie-P-Labels zu verzichten. Auslöser dieses Vorstosses: Am 5. September 2012 hat der Stadtrat von Zürich zuhanden des Gemeinderates die Weisung für den Bau des Schulhauses Blumenfeld verabschiedet, verbunden mit einer Medienmitteilung mit dem Titel Schulanlage Blumenfeld – Premiere in Minergie-P-Eco! Am 18.9.2012, knapp zwei Wochen darauf, titelte Tamedia: Das teuerste Schulhaus von Zürich. Wie der FDP-Vorstoss zeigt, geht offenbar ein Teil der Politik davon aus, dass der hohe Preis des Schulhauses Blumenfeld ausschliesslich auf den Minergie-P-Eco-Standard zurückzuführen ist – eine falsche und absurde Annahme!

Dieses Schulhaus wird vom office agps.architecture geplant. Das „a“ im Firmenkürzel steht zum Beispiel für Marc Angélil, an der ETH Zürich auch Professor für Architektur und Entwurf. Und dies im Departement Architektur, welches sich bekanntlich gegen Energieeffizienz beim Bauen wehrt (Stichwort Towards Zero-Emission Architecture). Originalzitat Professor Marc Angélil: «Jeder Mensch soll seine CO2-Emissionen auf eine Tonne reduzieren, wie viel Energie er dabei verbraucht, ist nicht wesentlich». Damit bin ich leider schon wieder dort, wo ich eigentlich nicht mehr hin will: bei Endlos-Loops!

Diese Zusammenhänge und Abhängigkeiten lassen den Verdacht entstehen, Tamedia habe sich für das Bashing des Minergie-Labels instrumentalisieren lassen!