Die JungsozialistInnen (JUSO) Schweiz haben ein ziemlich eigenartiges Religionspapier entworfen – es stützt sich im wesentlichen auf die Aussage, dass Religionen nicht demokratisch legitimiert seien. Die JUSO sehen Religionen als zwangschaffende Institutionen – erstaunlich, dass die JUSO nicht gerade auch noch die Abschaffung der Naturgesetze verlangen.
Mit einem ziemlich antiquierten Religionsbild – wahrscheinlich geprägt durch den Schulgeschichtsunterricht, welcher ja üblicherweise irgendwo zwischen den Weltkriegen aufhört – beginnt das JUSO-Papier. Die katholische Kirche etwa hat einen grosse Erneuerungsschritt getan nach dem zweiten Vatikanischen Konzil – VertreterInnen der christlichen Kirchen waren die treibenden Kräfte hinter dem Mauerfall in Berlin, in der ehemaligen DDR, ziemlich genau vor 20 Jahren.
Zwang unterstellen die JUSO den Kirchen. Die Mitgliedschaft in einer Kirche ist ein bewusster Vorgang – ab 16 kann jede und jeder jederzeit frei entscheiden, ob er oder sie Mitglied einer der Kirchen sein möchte. Selbstverständlich ist dabei nicht zu verkennen, dass auch die Traditionen, sowohl des Landes als auch der Familie, bei diesem Entscheid mitwirken. Die kirchlichen Dienstleistungen bei Taufe, Konfirmation oder Firmung, Trauung, aber auch Abdankung oder Beerdigung bieten vielen einen würdigen und feierlichen Rahmen bei „Lebensabschnittsanlässen“. Dies ändert nichts daran: die Mitgliedschaft bei einer Religionsgemeinschaft ist ein freier, bewusster, dauerhafter aber auch regelmässiger Entscheid eines mündigen Menschen.
Dieser Entscheid erfolgt grundsätzlich in Kenntnis der Positionsbezüge und der weltanschaulichen Haltungen der Kirchen.
Brauchen die Glaubensinhalte und die Alltagsgebote einer Kirche eine demokratische Legitimierung? Gelten sie sonst als Zwang und sind daher abzulehnen, wie das die JUSO tun? Naturgesetze, beispielsweise die Schwerkraft, sind ebenfalls nicht demokratisch legitimiert. Dass ein Gegenstand, der schwerer ist als Luft, zu Boden fällt, ist manchmal ärgerlich (und es gäbe daher möglicherweise keine demokratische Mehrheit für die Fallgesetze), und kann durchaus als Zwang bezeichnet werden. Aber deswegen die Naturgesetze abzuschaffen, wird nicht mal den JUSO einfallen.
Ethisches Verhalten ist ein Müssen, Sollen – sparen wir uns doch die Wortklauberei – , ist letztlich ein Zwang, der sich aus der goldenen Regel der Ethik ergibt, Fundament eigentlich jeder Religion, oder in der Formulierung des kantschen Imperativ: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Viele Religionen berufen sich auf historische ReligionsstifterInnen. Die meisten Religionen sind entstanden aus den Lehren und Erkenntnissen grosser Menschen, aufbauend auf dem örtlichen Glaubensgebäude. Die meisten damaligen Gesellschaften waren agrarisch geprägt – die heutigen mobilitätsorientierten Dienstleistungsgesellschaften zumindest in den Überflussökonomien der „ersten Welt“ entsprechen der damaligen Lebensrealität mit Sicherheit nicht. Gerade Weltkirchen stehen vor der Herausforderung, glaubwürdige Haltungen und Lebenshilfen für eine multikulturelle und multiökonomische Welt präsentieren zu können.
Individualisierte Ethiken haben zwar einen gewissen Reiz, dürften allerdings angesichts der erheblichen Kommunikationsbarrieren – denn Worte sind gerade in ethischen Fragestellungen zuerst inhaltsleere Hülsen – kaum mit dem Prinzip der goldenen Regel der Ethik vereinbar sein, weil sich diese Do-It-Yourself-Konstrukte kaum auf ihre gesamtgesellschaftliche Verträglichkeit überprüfen lassen. Die „Lebenshilfen“ der Kirchen haben zwar tendentiell eine niedrige Veränderungsgeschwindigkeit, mit hoher Wahrscheinlichkeit darum, um der globalen Dimension der „Weisheiten“ gerecht zu werden. Viele Individualethiken, mögen sie noch so freidenkerisch daherkommen, können dem universellen Charakter der goldenen Regel der Ethik nicht gerecht werden. Möglicherweise fusst in dieser Erkenntnis auch die Ablehnung der Festlegung von „Gut“ und „Böse“ (das „Böse“ nicht als „teuflisch“ verstanden) – selbst ein übermässig grosser ökologischer Fussabdruck gilt als akzeptabel, auch wenn klar ist, dass eine solche Verhaltensweise unter keinem Titel ethisch verantwortbar ist.
Offensichtlich ist allerdings: auch die Kirchen haben nicht zwingend glaubwürdige Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart – dies dürfte auch der wesentliche Grund sein für die abnehmende gesellschaftliche Relevanz der Kirchen. Aber: einerseits die mehrere hundert Jahre dauernde gemeinsame Geschichte von Religionen und grossen Bevölkerungsteilen, andererseits immer wieder kluge Köpfe, die sowohl in diesem Milieu zu Hause sind als auch darüber hinausdenken können, bieten die Chance, an einer gemeinsamen Ethik, an gemeinsamen Vorgaben des menschlichen Lebens zu arbeiten. Ein solches Beispiel: Hans Küng als treibende Kraft hinter dem Weltethos.
Darum trete ich ein für die weitere Präsenz der Kirchen, der Religionen – wohlverstanden nicht ausschliesslich christlich geprägt – in der Schweiz: da diese Institutionen traditionell für „höhere Werte“ stehen (bei allem Wissen auch um die dunklen Seiten der machthungrigen Kirchen), könnten diese wieder vermehrt die Rolle als gesellscahftliche Anker übernehmen.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2009 an den immer noch neuen amerikanischen Präsidenten Barack Obama – zu einem Zeitpunkt, an welchem eine umfassende Beurteilung des Leistungsausweises noch gar nicht möglich ist – zeigt, dass bereits die Worte eines kühnen Menschen Zeichen setzen können, Zeichen der Hoffnung für eine gemeinsame Zukunft der Menschheit (selbst bei eingeschalteten Warnlichtern wegen der nicht nur positiven Wirkung von charismatischen Menschen, Stichwort Propagandaminister). Als Anmerkung: „Glaubwürdigkeit“ ist ein zentrales Kriterium, dass solchen menschlichen Leuchttürmen zugestanden wird – ausgerechnet der Bezug zum Glauben, sicher kein Zufall!
Zum Zusammenwirken von Religion und Gesellschaft respektive dem Staat bietet gerade die Schweiz ein lange erprobtes Modell – ein duales Modell einmal mehr. In vielen Kantonen gibt es staatskirchenrechtliche Gebilde, die den demokratischen Rahmen bieten für das innerkirchliche Wirken. Das Wirken dieser staatskirchenrechtlichen Strukturen ist dabei sowohl in den Verfassungen der Kantone als auch in entsprechenden Gesetzen dargelegt. Sowohl dieser staatliche Rahmen als auch die staatskirchenrechtlichen Aktiviäten unterstehen somit den üblichen demokratischen Gepflogenheiten. Dass damit auch das Recht auf die Steuererhebung verbunden ist, versteht sich – auch wenn dies derzeit im Kanton Zürich noch mehrheitlich akzeptiert ist, dürfte die Frage der kirchlichen Steuerpflicht von juristischen Personen regelmässig zu Diskussionen führen. Nicht unwichtig: dieser Rahmen muss nicht ausschliesslich für christliche Kirchen reserviert bleiben! Die Trennung von Kirche und Staat würde demgegenüber in erster Linie fundamentalistische Gemeinschaften stärken. Das System der staatlichen Kirchengesetzgebung und der staatskirchenrechtlichen Institutionen schafft die Voraussetzung für ein befruchtendes Miteinander von Gesellschaft und Religionen – zum Beispiel im Hinbick auf gesamtgesellschaftliche Ziele!
Angesichts der interessanten Konstruktion der JUSO im Spannungsfeld von Zwang, Ethik und demokratischer Legitimation kommen die konkreten Umsetzungsvorschläge zum Teil sehr unüberlegt daher; einige davon dürften die Religionsfreiheit in ähnlichem Ausmass betreffen wie die SVP-Initiative „Gegen den Bau von Minaretten“ (damit ist nicht „Intelligent Design“ gemeint). Als ein kleines Beispiel: Die Religionsfreiheit verlangt sowohl Eidesformeln mit oder ohne religiösen Bezug – bekanntlich zählt die Religionsfreiheit zu den elementaren Grund- und Menschenrechten. Als ein weiteres Element: Dass der Staat sich um die Karitas, die tätige Nächstenliebe, kümmert, ist eigentlich selbstverständlich. Dies dürfte allerdings einiges teurer werden, als wenn die Kirchen dies tun, denn nirgendwo sonst ist der Freiwilligenanteil derart gross!
Fazit: Ich meine, dass unsere Gesellschaft einige gröbere Probleme zu lösen hat, die durchaus gesamtgesellschaftlich betrachtet existenziellen Charakter haben, Stichwort z.B. Mensch gemachter Klimawandel. Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht angezeigt, Kirchen oder Religionen von desn gesellschaftlichen Prozessen auszuschliessen, gerade weil diese Religionen einen Zugang zu den Anliegen erschliessen können, welcher traditionell z.B. der Politik nicht zur Verfügung steht. Auch hier ein Beispiel: Bereits 1986 gegründet wurde der ökumenische Verein „oeku Kirche und Umwelt„, welcher von der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) und dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) als Beratungsorgan für ökologische Fragen bezeichnet wurde. Gerade weil diese grossen Probleme immer auch ethische Fragen aufwerfen, ist es von Vorteil, auch die Erfahrungen tatsächlich weltumspannender Kompetenzzentren in ethischen Aspekten einzubeziehen (im vollen Wissen darum, dass zahlreiche der Umsetzungsempfehlungen der Kirchen und Religionen gesellschaftspolitisch weiterentwickelt werden müssen).
Im Sinne der Transparenz, auch wenn dies andernorts auf dieser Internet-Seite festgehalten ist: ich bin nach demokratischen Regeln gewählter Synodal, also Mitglied der Synode der römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich, der Legislative der staatskirchenrechtlichen Strukturen der römisch-katholischen Kirche im Kanton Zürich.
Ein Ausflug in die Innerschweiz, zu Fuss, mit dem Velo, auf Skis zeigt es deutlich: das Christentum hat Spuren hinterlassen! Nicht nur Kirchen prägen die Gegenden, omnipräsent sind auch Kreuze: an Wegkreuzungen, auf Alpen, als „Krone“ von Berggipfeln, überall ist dieses starke christliche Symbol zu finden. Eine Übernachtung z.B. in einer Alphütte mit Kreuz bringt eine weitere Überraschung: metaphysisches Staunen angesichts der Pracht des Sternenhimmels. Naturwissenschaftlich ist alles klar mit den Myriaden von Sonnen in einer Unzahl von Galaxien und so weiter – der Gedanke an Etwas, das grösser ist als Mensch, liegt nahe. Ob wohl die Städte mit ihrem Lichtsmog die Erfahrung des metaphysischen Staunens erschweren?