Ich habe noch selten ein derart frustrierendes Abstimmungswochenende erlebt: bei sämtlichen am 26. September 2010 zum Entscheid anstehenden politisch einigermassen relevanten Fragestellungen haben die Stimmberechtigten in ihrer Mehrheit anders entschieden als ich. Vorausdenkende sind sich das zwar gewohnt, aber „Null zu Vier“ gibts doch eher selten.
Ich weiss, AbstimmungsverliererInnen dürfen keine Abstimmungskommentare schreiben – ich mach es trotzdem, denn ohne schlechte Verlierer, die an einem Thema dran bleiben, gäbe des die Politik schon lange nicht mehr. Aber eben, spätestens seit der statistischen Auswertung gewisser Zusammenhänge bei den Abstimmenden/Wählenden ist wieder einmal mehr klar: auch die Abstimmenden gehören zu genau jenen Stimmberechtigten, die die Abstimmenden verdient haben.
Bei der Abstimmung über das Projekt Nagelhaus am Escher-Wyss-Platz für Kunst und Architektur, Gastronomiebetrieb, Kiosk und ZüriWC-Anlage mit einem Objektkredit von 5,9 Mio. Franken erschüttert, wie das Resultat zustande gekommen ist: nämlich mit Lügen, mit viel plumper Schäbigkeit und sehr viel Geld. Entgegen den Lügen der SVP ging es um viel mehr als ein WC („Schiissi“ aus der schäbigen Sicht der SVPler), auf das dringend nötige ZüriWC entfielen rund 8 % der Kosten – siehe hier mehr dazu. Nun, die SVP hat deutlich über ihr Wählerpotential Stimmen gekauft – letztlich ist auch Politik Marketing, auch wenn dies nicht im Sinne der Demokratie ist. Objektiverweise würde ich mich als SVPler schämen, wie dieses Abstimmungsergebnis zustande gekommen ist. SVPler, mir stinkts mit Eurer Schiissi-Politik!
Denn: 50 Prozent der Kosten dieses Projektes wären für Platzgestaltung und Kultur gebraucht worden – mit einem erheblichen Teil an Arbeitsleistungen. Auch KünstlerInnen möchten durch ihre Arbeit ihr tägliches Brot verdienen können. Nicht nur Anker-Bilder, Viehschauen oder Alphörner sind Kultur oder Kunst – sondern all das, was Menschen tun, um ihre Wahrnehmung der Gegenwart und ihre Zukunftsvisionen darzustellen. Wer Kunst mit derartig schäbigen Argumenten ablehnt wie die SVP, grenzt einmal mehr aus, zeigt sich intolerant, verneint die Existenzberechtigung von KünstlerInnen. Es gehört zur Geschichte der Kunst, dass Kunst nicht mehrheitsfähig ist, weil sie gewohntes in Frage stellt – dies gilt selbst für Kunstgegenstände, die heute einen unermesslichen Tauschwert haben. Es ist ganz einfach: Kunst hat schon immer das Mäzenatentum gebraucht – früher waren dies absolute FürstInnen. Es kann doch nicht sein, dass in einer aufgeklärten Gesellschaft das Gemeinwesen, die Stadt, nicht in der Lage ist, einen direkten Beitrag zur Existenzsicherung der KünsterInnen zu leisten – und zwar unabhängig davon, ob die vorgeschlagene Kunst auch den SVP-Demagogen, -Autokraten und -demokraturisten gefällt! Die Position „Kunst muss auch den SVP-Strategen gefallen, sonst ist sie keine Kunst“ ist einer Demokratie unwürdig, sondern ist Element einer Diktatur.
Im übrigen: in Bern waren die SVP-Bemühungen gegen die Kunst- und Kulturfreiheit nicht erfolgreich: die SVP-Initiative für die Schliessung und den Verkauf der Reitschule wurde abgelehnt. Ob das wohl damit zu tun hat, dass die SVP der Stadt Bern einen deutlich kleineren WählerInnen-Anteil hat und zusammen nicht über den finanziellen Support von Milliardären verfügt?
Und einfach noch dies: der direkt betroffene Stadtkreis hat dem Projekt zugestimmt – wo bleibt da die Demokratieverträglichkeit eines solchen Entscheides????
Dass die Stadt Zürich Land verkauft, ist aus prinzipiellen Gründen unverständlich. Angesichts der Knappheit des Bodens darf die Stadt Land, das ihr gehört, aus gar keinem Grund verkaufen. Das Baurecht ist eine sehr gute Form zur Nutzung solcher Grundstücke. Fraglich ist allerdings, ob der FDP-Finanzvorstand je diese Form eines Landgeschäftes nutzen wird – besonders auch darum, weil 63.4 % der Stimmenden mit dieser Verschleuderung städtischer Grundstücke einverstanden sind.
Der öffentliche Verkehr in der heutigen Form ist zwar nur bedingt 2000-Watt-Gesellschaft-tauglich – der MIEF oder Strassenverkehr ist es aber noch viel weniger, und trotzdem wird immer noch sehr viel öffentliches Geld in den Strassenverkehr investiert – offenbar damit Leute sitzenderweise mit oder ohne Stau möglichst umweltbelastend unterwegs sein können. Klar ist: wenn schon ist der Regionalverkehr zu fördern, also der Nahverkehr – da kommt ein Brüttener Tunnel, welcher an den Haltestellen vorbeifährt, gar nicht in Frage. Und weil der VCS Zürich die deutlich besseren Verkehrs-Zukunftsvisionen hat als etwa der Kanton Zürich oder der Bund, ist das Nein zur VCS-Initiative ein eigentlicher Schildbürgerstreich.
Auf Bundesebene wirbt das Abstimmungsergebnis zur Neuausgestaltung der ALV einmal mehr für das bedingungslose Grundeinkommen für alle. Die volle Erwerbstätigkeit ist eine Fiktion, ebenso das Einbein-Melkstuhlprinzip für die Altersvorsorge (AHV, Pensionskasse, 3. Säule), denn alle diese Elemente bauen auf Erwerbsarbeit auf – und davon hat eine nachhaltige Gesellschaft nicht genug (Arbeit schon, aber Erwerb nicht!). Zu prüfen wird sein, ob allenfalls die Meinungsäusserung der Städte gegen diese Revision mit zum Ja zu dieser unsinnigen Vorlage beigetragen hat. Wenn bei einer Reduktion der Arbeitslosenversicherung einfach die Städte via Sozialhilfe einspringen, handelt es sich letztlich für die Betroffenen um eine Art Nullsummenspiel – oder anders: sollte man mal von Erwerbslosigkeit betroffen sein, steht immer finanzielle Hilfe zur Verfügung.
Auf jeden Fall: sämtliche dieser Abstimmungsthemen werden uns erhalten bleiben – und irgendwann wird sich zeigen, dass Vier zu Null besser gewesen wäre als Null zu Vier!