Wie viel Privatsphäre haben Einzelpersonen zu gut – wie viel Öffentlichkeit müssen Personen mit Öffentlichkeitsauftrag erfüllen. Und haben JournalistInnen selbst in der Sauregurke-Zeit das Recht, als schreibende Paparazzos dort rumzustochern, wo es schlicht nichts öffentlich relevantes zu finden gibt?
Dass die Boulevard-Presse keinen Anstand und keine ethischen Werte kennt, ist ja längst bekannt – und auch regelmässig ein Ärgernis. Dass auch sogenannte renommierte Tageszeitungen wie der Tages-Anzeiger immer mehr der Niveaulosigkeit frönen, ist eine erschreckende Tendenz. Es ist befremdend, welche Treibjagd die TA-JournalistInnen Daniel Foppa und Gaby Szöllösy im TA-Online vom 15. Juli 2008 unter dem Titel „Fall Nef: Fragen bleiben offen“ veranstalten.
Da werden wuchernste Vermutungen darüber angestellt, welche Gewalt der oberste Militär Roland Nef gegenüber seiner früheren Partnerin angewendet haben könnte. In ihrer Stellungnahme hält die frühere Partnerin fest, sie empfinde die derzeitigen Diskussionen als persönlichkeitsverletzend und fühle sich durch die Presse belästigt. Hier üben JournalistInnen phsychische Gewalt aus, und es interessiert sie in keiner Art und Weise, was sie mit ihren Zeichenhonoraren bewirken.
Festzuhalten ist: offenbar hat der heutige Armeechef Roland Nef im Umgang mit seiner früheren Partnerin Fehler gemacht, Fehler, die einen Anklagevorgang in Gang gebracht haben. Die beiden Streitenden haben einen Weg gefunden, um ihre früheren Differenzen zu bereinigen. Sie haben sich also als mündige und selbstverantwortliche Menschen darüber verständigt, wie sie die Vergangenheit abschliessen wollen – und dass sie je einen Neuanfang versuchen wollen. Was genau zwischen diesen beiden Menschen passiert ist, hat niemanden zu interessieren, der nicht von den Beteiligten einbezogen wird!
Es mag durchaus sein, dass für die oberste Armeeführung nur Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur in Frage kommen – das ist ja mit ein Grund, warum ich die Armee lieber bereits gestern als erst übermorgen abschaffen möchte. Es ist allerdings davon auszugehen, dass das Auswahlverfahren gerade für potentielle Chefs der Armee eine umfassende Sicht auf die Person ermöglicht – und die Verantwortlichen dadurch sehr wohl in der Lage sind, zu beurteilen, ob bestimmte Verhaltensweisen mit einem zukünftigen öffentlichen Amt vereinbar sind. Auch die höchsten Führungspersonen der Armee haben einen Anspruch auf Persönlichkeitsschutz! Es ist letztlich eine Frage, ob die Öffentlichkeit dem verantwortlichen Bundesrat Samuel Schmid vertraut. Wenn nicht, ist dies auch ein Erfolg der populistischen SVP: angefangen mit dem despektierlichen Begriff „Halbbundesrat“ bis zum aufgenötigten Parteiaustritt (auch ein gewalttätiger Vorgang) hat die Zechpreller-SVP mit Übervater Blocher alles dafür getan, das Vertrauen in Bundesrat Schmid zu erschüttern.
Somit: wer vorgibt, sich beim „Fall“ von Roland Nef und seiner früheren Partnerin gegen die Tabuisierung der häuslichen Gewalt zu engagieren, steht letztlich im geistigen Sold der SVP!
Es tut Not, auch in der Sauregurken-Zeit minimalste ethische Regeln zu befolgen und sich einen Minimalanstand zu behalten – halt um den Preis, dass es allenfalls auch mal ein bisschen Luft oder weissen Raum in der Zeitung hat.
Nachtrag 20.7.08 – Demokratie in Gefahr – der Pöbel schlägt einmal mehr zu!
Markus Arnold, Präsident der CVP des Kantons Zürich, hat in einem sehr klugen Referat davor gewarnt: Demokratie darf nicht zur Herrschaft des Pöbels ausarten! Genau dies passiert jetzt wieder einmal mehr – inszeniert von Primitivmedien wie Blick, Sonntagszeitung oder Tages-Anzeiger (Empfehlung: boykottieren!).
Zur Wiederholung: Der Chef der Armee hat vor seinem Amtsantritt als Privatperson ziemlich emotional reagiert. Er hat diesen Fehler eingestanden und seine ehemalige Partnerin entsprechend den dafür im Gesetz vorgesehenen Regeln entschädigt. Mehr hat die Oeffentlichkeit nicht zu interessieren, weitergehende Details sind Privatangelegenheit – wer solche Details erfahren möchte, muss sich bewusst sein, dass er oder sie „Voyeurismus“ betreibt. Wer die Details einer privaten Vereinbarung an die Oeffentlichkeit bringt, handelt verwerflich und gesetzeswidrig: dieses Verhalten muss bestraft werden! Es ist augenfällig: da führt ziemlich auffällig die SVP Regie! Weil sie weder auf demokratischen noch auf rechtsstaatlichen Weg ihren Führerkult pflegen kann, setzt sie nun auf den Pöbel – höchste Gefahr für die Demokratie also! Denn: wenn es schon mal funktioniert hat, warum nicht wieder probieren? Die nächste Sauregurkenzeit kommt bestimmt – und es gibt sicher noch viele unbequeme PolitikerInnen, deren Privatsphäre verletzt werden kann!
Beim Auswahlverfahren waren alle Beteiligten der Ansicht, dass sich Herr Nef bestens als Chef Armee eignet, in Kenntnis davon, dass er daran war, die private Angelegenheit mit seiner ehemaligen Partnerin entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu regeln.
Es ist definitiv so: Bundesrat Samuel Schmid hat das Antragsrecht zur Wahl des Chefs Armee – er hat sich entschieden, dass diese Privatangelegenheit zu seiner Zufriedenheit geregelt werde und dass darum der Gesamtbundesrat nicht davon erfahren müsse. Er hat als verantwortungsvoller Chef reagiert, der die Privatsphäre seiner obersten Mitarbeiter schützt. Er hat sich für den Rechtsstaat, für die demokratisch vorgegebenen Wege entschieden. Ich bin weder Armeefan noch Anhänger von Bundesrat Schmid – aber ich leide nicht unter dem Sauregurkensyndrom (Ökologie resp. Klimaschutz haben immer Saison): Herr Schmid hat klug entschieden! Wer dies nicht respektieren kann, hat ein erhebliches Demokratie-Defizit – und fördert die totalitären SVP-Tendenzen in diesem Land.
Es gehört zu den demokratischen Grundprinzipien, dass EntscheidungsträgerInnen einen gewissen Ermessensspielraum zur Verfügung haben. Und es gehört ebenso zu den Prinzipien der Demokratie, dass dieser Ermessensspielraum respektiert wird! Viele juristische Verfahren behandeln nicht die eigentlichen Inhalte, sondern gehen der Frage nach, ob ein Entscheid innerhalb des Ermessensspielraumes erfolgt ist. Wenn ein Gericht zur Ansicht kommt, dass ein Entscheid im Rahmen des Ermessens erfolgt ist, wird dieser Entscheid nicht gekippt – schlicht darum, weil das Gericht nicht das Ermessen der Entscheidenden durch einen mindestens ebenso willkürlichen Ermessensentscheid ersetzen will.
Oder anders: in jeder Entscheidungssituation geht es um das Abwägen zwischen verschiedenen Faktoren. Wenn nun ein neuer Entscheid verlangt wird, ist dies klassische Pöbel-Argumentation – der Pöbel verlangt, dass sein Ermessen über das Ermessen der ursprünglich entscheidenden Personen gestellt wird, unter Ignorierung sämtlicher demokratisch vorgegebener Verfahren. Nach dieser Sauregurken-Medienkampagne der letzten Tage sind allfällig neu entscheidende Personen schlicht befangen. Sie könnten der Situation nicht mehr gerecht werden. Es besteht die Gefahr, dass Herr Nef wegen eines Vorfalls bestraft würde, für welchen er bereits Sühne geleistet hat. Eine solche doppelte Bestrafung ist in einem Rechtsstaat unzulässig – weil dies mit einer gerechten Strafe nichts mehr zu tun hat, dafür sehr viel mit Rache. Nur der Pöbel, der Lynchjustiz-Druck der Strasse kann zu solch unsinnigen Forderungen führen.
Deshalb: Cool down! Bitte ganz ruhig in eine Ecke setzen, Hirn einschalten, und die ganze Thematik nochmals überdenken. Dabei hilft möglicherweise, dass dank des Wetters auch die Umgebungsbedingungen etwas weniger überhitzt sind!
Aus dem Kommentar von Koni Loepfe aus der P.S. vom 24. Juli 2008 unter dem Titel „Rechtsschutz irrelevant“ (P.S.-Texte sind nicht elektronisch verfügbar):
Es brauchte Anstrengungen, bis häusliche Gewalt und Nötigung endlich nicht mehr als Kavaliersdelikte abgetan wurden. Dies setzt voraus, dass betroffenene Frauen zur Polizei oder zur Staatsanwaltschaft gehen. Die Frauen wissen, dass sie eine Anzeige nicht einfach zurückziehen können, wenn das Delikt eine gewisse Schwere übersteigt. Sie wissen aber auch und sie müssen sich darauf verlassen können, dass eine Regelung zwischen ihnen, dem Täter und der Staatsanwaltschaft privat bleibt. Die meisten Betroffenen wollen ein Ende der Belästigung, allenfalls eine Genugtuung für erlittenes Unrecht, aber in den seltensten Fällen ein Wiedersehen in den Medien.
Als Betroffene würde ich mir sehr gut überlegen, ob ich eine Anzeige mache, wenn ich damit rechnen muss, dass dann die halbe Schweiz mein Schicksal zu kennen meint. Und als Staatsbürger frage ich mich mehr als ernsthaft, ob bei uns die Staatsanwaltschaft wie vorgesehen entscheidet, ob ein Vergehen im Einverständnis aller Beteiligten privat zu den Akten gelegt wird oder ob es eine amtliche Strafanzeige braucht. Oder ob künftig Medien und wichtigtuerische Politikerlnnen in ihren Kommentaren darüber richten. Mitunter habe ich den Eindruck, dass wir dem guten alten Schandpfahl recht nahe kommen. Das ist so ziemlich das Gegenteil eines funktionierenden Rechtsstaates.
Erste Fassung: 15.7.08