Ich halte mich weiterhin daran, bei Einervakanzen in Majorzgremien keine Wahlempfehlungen abzugeben. Hin und wieder ist es allerdings angezeigt, gewisse Dinge auch bei solchen Wahlvorgängen zu kommentieren.
Der FDP-Kandidat Marco Camin hat knapp mehr Stimmen gemacht beim ersten Wahlgang der Stadtzürcher Stadtratsersatzwahl vom 3.3. 2013. Verschiedene KommentatorInnen waren nach diesem Wahlgang stärker überrascht über das gute Abschneiden von Richi Wolff als über die Tatsache, dass Herrn Camin relativ gut abschnitt, obwohl es kaum Positionsbezüge des Kandidaten gibt. Am Samstag, 9. März 2013 hat sich Herr Camin mit einem „Brief an die Bevölkerung von Zürich“ gemeldet. Nein, es ist nicht wirklich ein Brief, Es ist ein 7/8-Seiten-Inserat – schon fast ironisch folgt auf dem letzten Achtel der Werbeseite im Tagesanzeiger ein Tamedia-Eigeninserat mit der Werbebotschaft „Gross herauskommen“. Nach der Lektüre dieses vorgeblichen Briefes vermute ich allerdings, dass es für Herr Camin vorteilhafter gewesen wäre, dass die Bevölkerung von Zürich besser nicht erfahren hätte, wofür sich Herr Camin einsetzt. Ein Stadtrat, eine Stadträtin in einem Konkordanzsystem einer direkten Demokratie ist Ausführungsorgan (=Exekutive) dessen, was das Parlament und die Stimmberechtigten beschliessen – jeder Positionsbezug lässt an dieser Umsetzungsbereitschaft zögern. Zudem: eigentlich müssten dies die Stimmberechtigten der Stadt Zürich wissen und nicht die Bevölkerung. Schweigen oder Schreiben gilt für diesen Text genau so wie für den Scheinbrief von Herrn Camin.
Mit fünf Ja- und einer Nein-Schlagzeile versucht sich Herr Camin in einer Kürzestfassung – es geht dabei um Themen, die aktull oder gerade kürzlich Gegenstand der Politik sind oder waren – da fehlt jede Zukunftsperspektive. Im Übrigen: diese sechs Punkte sind bereits doppelt so viel wie die drei Grundsätze aus dem $VP-„Vertrag mit dem Volk“ (nationale Wahlen 2011).
Gewaltfrei – das ist im Grundsatz anerkannt. Wirklich? Von Herrn Camin war noch nie ein Wort gegen den „Krieg um Öl“ oder andere Gewaltaktivitäten zu hören, auch da geht es um die „Zerstörung öffentlicher Infrastruktur oder der Habe unbescholtener Privater„, auch die FDP tut dies nicht. Krieg, Gewalt, Zerstörung ist gerade auch in der FDP-Politik als Mittel der Problembehandlung akzeptiert – „Saubannerzüge“ sind die Folge einer solchen Politik: wer solchen Auswüchse „nicht dulden“ will, hat dafür zu sorgen, dass die Methode dahinter in allen Politikbereichen nicht geduldet wird. Davon ist bei der FDP nichts zu spüren. Im Übrigen: Von Menschen gemachte(r) Lärm, Luftverschmutzung, Klimawandel führt ebenfalls zu Zerstörungen öffentlicher Infrastrukturen und der Habe von Privaten – auch hier tut die FDP mit Sicherheit zu wenig, um diese menschlichen Handlungen auf ein verträgliches Mass einzuschränken. Mit der Betonung im Text von Herrn Camin wird ein Teil der Sicherheitsaspekte massiv und ungerechtfertigt aufgeblasen.
Die Höhe der Steuern ist dadurch zu ermitteln, dass die Aufgaben der öffentlichen Hände erfüllt werden können. „Keine höheren Steuern“ ist bestenfalls Populismus, hat aber nichts mit einer Lösungsstrategie zu tun, insbesondere auch darum, weil Steuern ein Instrument des sozialen Ausgleichs und des Lasten- und Rechteausgleichs sind. Wenn Herr Camin behauptet, dass gemeinnützige Wohnungen „Milliarden kosten und zu Steuererhöhungen führen„, hat er wahrscheinlich das Bruttoprinzip der öffentlichen Budgetierung und Rechnungslegung nicht verstanden. Gemeinnützige Wohnungen sind ein Investment, mit eingestandenermassen tiefen Renditen im Vergleich etwa zu den wucherischen Eigenkapitalrenditen der Grösstbanken und Multis und dadurch mit Bezug zur Abzockereithematik. Ich staune immer wieder, wie gerade bei der FDP die Ideen des gemeinnützigen Wohnungsbaus auf Unverständnis stossen. Dieser Absatz ist zudem ziemlich eigenartig am Samstag nach dem Volksentscheid über die Stiftung für bezahlbare und ökologische Wohnungen mit einem Ja-Anteil von 75.3 %. Stellt sich da Herr Camin nach wie vor gegen dieses Volksentscheid?
Gewerbe und Industrie sichern einen wichtigen Teil der Stellen. Tja, gemäss einem traditionellen Verständnis sind „Gewerbe und Industrie“ vor allem im 2. Sektor der Wirtschaft anzusiedeln – dieser macht allerdings weniger als 10 % der Beschäftigten in der Stadt Zürich aus. Herr Camin hat sich für den Swissmill-Tower eingesetzt und leitet daraus ein Statement zugunsten der Arbeitsplätze in Gewerbe und Industrie ab – die Öffentlichkeit weiss allerdings immer noch nicht, ob diese bauliche Lösung die einzige Möglichkeit war, um die betriebliche Zukunft von Swissmill zu sichern. Es hat nichts mit Wirtschaftsförderung zu tun, einfach alle Forderungen von Firmen unbesehen zu erfüllen – Vorschriften sind dabei wertvolle Instrumente der Qualitätssicherung und der Verbesserung der Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Aktivitäten (zu erinnern ist einmal mehr daran, dass der ökologische Fussabdruck der Schweiz (und damit auch der Zürcherinnen) massiv zu gross ist, siehe Nachhaltigkeitsmonitoring MONET des Bundes). Herr Camin lässt mit dieser Aussage vermuten, dass er nicht der Meinung ist, dass auch Gewerbe und Industrie ihre Beiträge zur nachhaltigen Entwicklung zu leisten haben.
Dass die aufgrund der Etikettenschwindel-FDP-Initiative „Umweltschutz statt Vorschriften“ entstanden gesetzlichen Bestimmungen ausgerechnet auf den 1. April 2013 in Kraft gesetzt werden, ist durchaus symbolisch zu verstehen. Solche Ansätze sind weder unter Nachhaltigkeis- noch unter Rechtstaatlichkeitsprinzipien zu verantworten. Der Vollständigkeit halber: Herr Camin war Mitglied des Initiativkomitees, er steht also zu solchen Scheinlösungen.
Der Text zu Bildung – vom Schulzimmer über Lehrbetrieb und Hochschulabschluss bis hin zu privater Forschung (sind da wohl Aktivitäten gemeint, die die Fossil- und Atomenergiewirtschaft tätigt, um die Climate Criminals in ihren absurden Argumenten zu bestärken) – ist so allgemein gehalten, dass darunter alles und nichts verstanden werden kann.
Ähnlich ist es auch mit dem sechsten Punkt zu Tagesstrukturen in Schulen – auch hier geht es um Nachbewältigung eines Volksentscheides. Und der Satz „Die Doppelbelastung der Frauen muss durch ein gutes Angebot so tief wie möglich gehalten werden“ ist schlicht und einfach verunglückt. Nach diesem Satz wäre die Doppelbelastung der Frauen heute tief, was nach Marco Camin so gehalten werden soll. Nur: die Realität ist eine andere, und sie hat sehr viel damit zu tun, dass Männer überwiegend nach wie vor Vollzeit-Stellen einnehmen … Herr Camin und damit offenbar auch die FDP haben nicht erkannt, dass es die Männer sind, die sich in dieser Frage gesellschaftspolitisch zu bewegen haben.
Obwohl in Verkehrsfragen jeweils die politischen Emotionen hochkochen, schweigt Herr Camin dazu. Ist dies jetzt Versteckis gegenüber der SP oder der $VP?
Nochmals: StadträtInnen sind die UmsetzerInnen von Aufträgen der Stimmberechtigten – eigene Positionen sind von untergeordneter Bedeutung. Aber es ist durchaus zu befürchten, dass Herr Camin nicht mit Überzeugung hinter einer grösseren Zahl von Aufträgen der Stimmberechtigten steht. Ob er durch diesen Brief an die Bevölkerung von Zürich wählbarer wird, wird sich am 21. April 2013 zeigen.