Der Auto-Anzeiger, früher Tages-Anzeiger, schreibt am 12.3.09 unter dem Titel „Seldwyla: Eine neue Tiefgarage, die niemand braucht.“ über die Schwierigkeiten der Stadt Zürich mit den Parkplatzvorschriften: Eine als „autofrei“ bezeichnete Siedlung (Sihlbogen) braucht ein zusätzliches Geschoss für eine Tiefgarage, was die Mieten spürbar erhöht. Wie das zum Artikel gehörende Stammtischforum im Auto-Anzeiger zeigt, ist es allerdings nicht die Stadt, sondern die Gesellschaft – insbesondere auch Bewohnende von Gebieten ausserhalb der Stadt Zürich – inklusive ihrem Sprachrohr Auto-Anzeiger, die dieses Seldwyla prägt.
Da wird einerseits die Glaubwürdigkeit der Stadt Zürich im Bezug auf die bis in zwei Generationen zu erreichende 2000-Watt-Gesellschaft an den Parkplatzzahl-Festlegungen gemessen, die vor etwa 10 Jahren festgesetzt wurden. Andererseits verlangen andere eigentlich noch mehr Parkplätze, weil sie „autofrei“ als aktuellen Modetrend betrachten und davon ausgehen, dass die Nachkommen wieder mit dem Auto unterwegs sein wollen!
Dabei ist der Fall völlig klar: der Schreiner auf Montage wird auch zukünftig mit einem „individuellen“ Transportmittel seine Waren von der Werkstatt zur Baustelle transportieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er in der 2000-Watt-Gesellschaft allerdings den Weg vom Wohnort zur Werkstatt oder Baustelle nicht mehr mit dem Auto machen, sondern dafür die Füsse, das Velo oder den öffentlichen Verkehr benützen (unter anderem darum, weil Wohn- und Arbeitsort näher zusammenliegen). Regelmässige und lange Pendlerstrecken sind in der 2000-Watt-Gesellschaft weder mit dem öffentlichen Verkehr noch mit dem Auto möglich, ausser wenn in anderen Bereichen weniger Energie verbraucht wird.
Seldwyla entsteht also darum, weil die einen unbedingt die bisherigen Strukturen und Gewohnheiten beibehalten wollen, während andere schnelle Schritte Richtung Zukunft unternehmen möchten – eine solche Situation führt zum Stillstand, nichts mehr geht, der Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft ist blockiert.
Dem Auto-Anzeiger ist dieser gesellschaftliche Stillstand hoch willkommen – da kann er einerseits über die offensichtlich veralteten Vorschriften lästern und gleichzeitig die Vorderseite der redaktionellen Texte u.a. mit Autowerbung bedrucken.
Es gibt nur eine Lösung: es braucht endlich eine Verkehrspolitik, die das „Am Ort sein“ über das „Unterwegs sein“ stellt!
Nachtrag 27.4.2009
„Wie viele Autos erträgt der Belvoirpark titelt der Auto-Anzeiger, früher Tages-Anzeiger, am 27.4.09 im City-Bund (darum nicht im Internet verfügbar). Es geht darum, wie viele Parkplätze das Restaurant Belvoirpark (mit der Hotelfachschule Belvoirpark) im geschützten Park erstellen und nutzen kann – laut Tages-Anzeiger „passen Autos in dieses edle Ambiente wie Wanderschuhe in ein festliches Wohnzimmer„. 34 Parkfelder möchten Grüne und Linke höchstens erlauben, der Stadtrat wollte (mit einer zurückgezogenen Weisung für einen Gestaltungsplan 56 Parkplätze, und der Direktor der Hotelfachschule könnte 80 brauchen. Und dies in einer Stadt, deren Stimmberechtigte sich mit 76.4 % Ja-Stimmenanteil für die Verankerung der 2000-Watt-Gesellschaft in der Gemeindeordnung ausgesprochen haben.
Es ist akzeptabel, dass sich das Restaurant an Gäste der mittleren und gehobenen Preisklasse (so gemäss Original, wahrscheinlich eher eine Fehlleistung des TA-Journalisten 😉 richtet – bezüglich Gastronomie ist es berechtigt, dass diese Gäste punkto Komfort eine klare Erwartungshaltung haben. Nun, es ist zu hoffen, dass es die GastronomInnen im Belvoirpark schaffen, diesen Gastro-Komfort mit einem vertretbaren ökologischen Fussabdruck (Food-Print) anzubieten. Auf der Internet-Seite beispielsweise finden sich keinerlei Aussagen zu den Themen Anbauweise, Saisongerechtheit und regionaler Herkunft der verwendeten Lebensmittel, es gibt auch kein Statement zum Thema ökologischer und sozialer Qualität.
Autos sind massgeblich mitverantwortlich für den übermässigen ökologischen Fussabdruck der mittleren Schweizerin, des mittleren Schweizers. Selbst Restaurant-Gäste, und selbst wenn die Mittagszeit ein wertvolles Gut ist, ist es schlicht nicht mehr zeitgemäss, in der Stadt Zürich mit dem Auto zum Mittagessen fahren zu wollen, sorry, Frau Stadträtin Martelli, sorry, Herr Belvoir-Direktor Nussbaumer. 10 Minuten ab Hauptbahnhof mit Tram 7, alle 8 Minuten, bis zur Haltestelle Brunaustrasse, dann 4 Minuten schlendern die 192 m bis zum Restaurant-Eingang, das funktioniert wirklich bestens (und trägt allenfalls noch zur Gesundheitsförderung bei, was ja im Zusammenhang mit der Ernährung durchaus von Bedeutung ist).
Selbst im Internet des Belvoirparks stehen die Anreisetipps mit dem Auto vor jenen mit dem öffentlichen Verkehr, und es fehlt sogar ein Link zum ZVV-Fahrplan!!! Im übrigen: laut diesem Anfahrtsplan liegen die meisten empfohlenen Parkplätze weiter weg als die Haltestelle Brunaustrasse – so soll es doch eigentlich sein, der öffentliche Verkehr braucht eine klare Prioritätensetzung für die Alltagswege!
Erste Fassung: 12. März 2009
Aus 2kwblog.umweltnetz.ch