2000-Watt-Gesellschaft, Energiewende, Städteinitiative: visionäre Ideen, die von einer politischen Mehrheit getragen werden. Wie werden solche Visionen zur erfolgreichen Realität? Welche Rolle spielt dabei eine mediale Meute, die auf Skandalisierung und Misserfolge fixiert ist?
Erich Fried hat 1981 geschrieben: Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.
Die Folgen des Mensch gemachten Klimawandels beispielsweise sind nicht mit absoluter Sicherheit vorhersehbar – mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Mensch gemachte Klimawandel die Anpassungsfähigkeit der Menschheit überfordern. Wenn der Ausstoss an Treibhausgasen aus dem übermässigen Verbrauch an fossilen Brenn- und Treibstoffen so bleibt oder gar zunimmt (was aufgrund der „Business-as-usual“-Szenarien zu erwarten ist), so sind erschreckende Auswirkungen auf zukünftige Generationen zu erwarten.
Tschernobyl und Fukushima haben aufgezeigt, welches die möglichen Folgen der Atomenergie sind. Die bis anhin nirgendwo auf der Welt erfolgreiche Suche nach Möglichkeiten zur dauerhaft sicheren Lagerung von Atommüll weist auf die ethische und moralische Nicht-Verantwortbarkeit dieser Energietechnologie hin.
Es braucht also Veränderungen, die „Welt“ muss sich ändern, damit die „Welt“ weiterbestehen kann.
Dagmar Dehmer hat im Tagesspiegel vom 18. Juli 2012 die Diskussionen über die deutsche Energiewende und deren in neuester Zeit durch einige Kabinettsmitglieder in der Öffentlichkeit ausgebereitete vermutete Nicht-Realisierbarkeit kommentiert. Als Zitat der Schluss dieses Kommentars:
Deutschland betritt mit der Energiewende Neuland. Nicht jeder Versuch wird ein voller Erfolg werden. Nicht jedes Gesetz wird funktionieren. Doch das ist kein Zeichen für ein Scheitern der Energiewende, sondern der Normalfall. Die Energiewende ist wie das richtige Leben – manchmal macht man Fehler, manchmal verirrt man sich, aber am Ende lockt das Ziel.
Das Umsetzen von Visonen ist wie das richtige Leben. Erfolge und Misserfolge, Highlights und Flops lösen sich ab – aber immer lockt das Ziel. Jürg Rohrer – und mit ihm weitere Mitarbeiter der Zürcher Lokalredaktion des Tagesanzeigers – scheint nicht zu wissen (oder absichtlich nicht wissen zu wollen?), dass die Realisierung von Visionen richtiges Leben ist, dass es sich um einen langen Prozess handelt. Visionen lassen sich nicht über Nacht umsetzen. Herr Rohrer „analysiert“, dass das Volk laufend Aufträge erteile, die die Politiker nicht erfüllen könnten (hat der Mann schon mal was von gendergerechter Schreibweise gehört?).
Wie die ersten Ueberlegungen zur Umsetzung der 2000-Watt-Gesellschaft zeigen, ist der Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft zwar ambitiös, aber alles andere als kolossal, wie dies Herr Rohrer befürchtet. Zentral ist die Erkenntnis, dass Argumentationen wie „Wäre es nicht besser, man würde …“ schlicht keinen Platz haben – es braucht „sowohl als auch“.
Herr Rohrer weist richtigerweise darauf hin, dass „die Leute bloss bei sich selbst aktiv werden müssten„. Es ist festzuhalten, dass ich mich durch „die Leute“ nicht angesprochen fühle – „jede und jeder einzelne, also auch Du und ich“ wäre da schon passender. Herr Rohrer reduziert dann allerdings „die Leute“ auf jene Stimmberechtigten, die den Gemeindeordnungsartikeln zur 2000-Watt-Gesellschaft und zur Reduktion des Anteils des Autoverkehrs am Gesamtverkehr zugestimmt haben. Nochmals: „jede und jeder einzelne, also auch Du und ich“ sind gefordert, nicht nur die Zustimmenden!
Andererseits: Herr Rohrer leitet diese Aufforderung zum eigenen Handeln aus dem von ihm „analysierten“ Versagen der Politik ab. Diese Aussage weist auf ein eigenartiges Demokratieverständnis hin – Politik entsteht aus den Handlungen und Haltungen „der Leute“ – andererseits braucht es auch die Politik zwingend, etwa zur Gewährleistung von Rechts- und Lastengleichheit auf dem Weg zur Realisierung. Zivilgesellschaftliches und individuelles Engagement ist zwingend erforderlich: Altruismus ist zwar ein Zeichen von Intelligenz und hochgradiger Gesellschaftsfähigkeit – nur der demokratische Rechtsstaat kann längerfristig sicherstellen, dass „jede und jeder einzelne, also auch Du und ich“ den Visionen zum Erfolg verhelfen. Ich freue mich auf den Zeitpunkt, wo auch Tagesanzeiger-Mitarbeitende fördernde Beiträge auf dem Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft, zum Beispiel mit ihren Texten, leisten – das geht, ohne auf die kritische Distanz der „vierten Gewalt“ verzichten zu müssen.
P.S. Ob wohl dieser Tagesanzeiger-Artikel durch das News-Sommerloch beeinflusst wurde und das Ausbleiben der Autoinserate? Allerdings: auch der Tagesanzeiger tut gut daran, dafür zu sorgen, dass er nicht von den Werbemillionen der Autolobby abhängig ist.