Sind Ortsbilder überhaupt schützenswert? Sind Ortsbilder, die in der Tradition einer agrarischen Gesellschaft stehen, tatsächlich erhaltenswert? Was genau macht denn an Ortsbildern Heimat aus? Braucht es überhaupt gebaute „Heimat“ als Erinnerung? Derartige Fragen stellen sich nach der längst fälligen Bereinigung des absurden Inventars der schützenswerten Ortsbilder (Isos).
Wer im Internet zum Beispiel mit der häufig genutzten Suchmaschine Google nach den Begriffen „Kinderzeichnungen“ und „Haus“ sucht, findet eine reichhaltige Sammlung typischerweise von kleinen Häusern mit Schrägdach, zwei drei Fenstern und einer Tür. Bei vielen dieser von Kindern gezeichneten Häusern ist zudem ein kräftiger Kamin eingezeichnet mit häufig schwarzem Rauch, selbst wenn im Garten um das Haus grüne Bäume oder blühende Blumen gezeichnet sind. Auch die Suche nach „Haus“ und „Symbol“ führt zu ähnlichen Bildern. Das kleine Haus, das Einfamilienhaus gilt nach wie vor als Archetyp, gilt als Normalfall eines Gebäudes. Diese Form war möglicherweise in der agrarischen Gesellschaft zweckmässig – die Landwirtschaft braucht viel Platz, um Lebensmittel zu produzieren, und es braucht eine eher kleine Personendichte, um diese Flächen zu bewirtschaften, selbst ohne Mechanisierung. Diese „Undichtheit“ hat die Ortsbilder geprägt, es braucht neben der Landwirtschaft wenige Zusatzfunktionen, vom Schreiner bis zum Landmaschinenmechaniker etwa. Nach den langen Arbeittagen gab es wenig Raum für Freizeitaktivitäten; weil die Dörfer klein waren, mit wenig Menschen, die in einem gangbaren Umkreis wohnten, war auch das Angebot an Freizeitmöglichkeiten gering. In diese agrarischen Ortsbilder passen genau diese kleinformatigen Bauten.
Als Detail nochmals zu den schwarz rauchenden Kaminen auf den Kinderzeichnungen, Hinweise auf schlecht brennende Feuer, gespiesen mit Holz, allenfalls Kohle, vornehmlich für Kochzwecke im übrigen! Kamine bei heutigen Bauten dürfen nicht rauchen, sie stossen allenfalls Wasserdampf aus, damit die (Atem-)Luft sauberer gehalten werden kann. Und gerade Neubauten kommen immer häufiger ohne Kamine aus, verwenden z.B. Einrichtungen zur Nutzung der Sonnenenergie. Das ist auf den Kinderzeichnungen, aber auch auf den Symbolbildern bis anhin kaum zu finden. Oder anders: die Energiewende bei den Häusern ist auch auf den Kinderzeichnungen noch nicht angekommen.
Ist dies ein Heimatbild, dass es zu schützen gilt? Wohl kaum. Die Gesellschaft hat sich verändert. Nur noch ein kleiner Teil der Menschen arbeitet in der Landwirtschaft. Die zu erfüllenden Aufgaben sind komplexer und vielfältiger geworden, die Freizeitangebote vielfältiger. Von grosser Bedeutung sind auch die Verkehrssysteme. Autostrassen mussten mit viel Gewürge in die Ortsbilder hineingebracht werden – Bahnlinien und damit auch die Bahnhöfe mussten im Gegensatz dazu musste vielfach ausserhalb der „historischen“ Ortskerne angelegt werden. Vielfach entstanden Gewerbe- und Industriegebiete in der Nähe der Bahnhöfe, regelmässig aber auch grössere Wohnquartiere, Neudorf, Neustadt genannt. Auch diese Besiedlung stellt einen Teil der Heimat dar.
Eine polyfunktionale Gesellschaft zwingt bei den undichten Siedlungsstrukturen, die vermeintlich die zu schützende Heimat ausmachen, zu immensen Verkehrsströmen, weil Alltagsfunktionen, zum Beispiel Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Ausbildung, Einkaufen, örtlich voneinander getrennt sind. 2010 waren in der Schweiz Menschen über 6 Jahre fast 84 Minuten täglich unterwegs, sie legten in dieser Zeit fast 37 Kilometer zurück (Quelle: Mikrozensus 2010). Es ist ohne Einschränkung von Zwangsmobilität zu sprechen. Wir brauchen demgegenüber Ökostädte, wir müssen dafür sorgen, dass Menschen ihre Alltagswege mit den täglich etwa 7’000 Schritten, die aus Sicht der Gesundheitsförderung anzustreben sind, abdecken können. Klar ist: in den geschützten Ortsbildern lässt sich dies kaum realisieren!
Sind nun die neuen Ortsbilder, wie dies Adrian Schmid, Geschäftsleiter des Vereins Schweizer Heimatschutz, behauptet, „fantasieloser Schrott„? Sorry, Adrian, das ist zu billig! Neubauten, die die neuen Ortsbilder ausmachen, entsprechen schlicht nicht mehr dem Kinderzeichnungsbild von Häusern! Menschen, die neue Häuser bauen, wollen schöne Häuser bauen, wollen lebenswerte Räume schaffen, auch wenn diese vom Kinderzeichnungs-Schema abweichen, wenn diese nicht dem modischen Vintage-Trend entsprechen. Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass das Festhalten an den geschützten Isos-Ortsbildern sinnvolle Entwicklungen verhindert, die nachhaltige Entwicklung der Besiedelung nicht zulässt. Wir brauchen ein neues Verständnis von Ortsbildern, eine gesamtheitlichere Optik, als es die schon lange nicht mehr zeitgemässen Vorstellungen von schützenswerten Ortsbildern ermöglichen würden.
Heimat ist nicht durch den Erhalt von Ortsbildern oder Bauten zu schützen – Heimat ist im gebauten Teil immer neu zu schaffen. Heimat ist die Herausforderung, das Wohlergehen der in den „Heimaträumen“ lebenden Menschen zu steigern und zu erhalten, ohne die Möglichkeiten anderer Menschen in anderen Heimaträumen einzuschränken, heute und in der Zukunft. Nachhaltige Ortsbilder brauchen keinen Schutz, auch sie haben sich – nachhaltig – zu entwickeln. Der Schutz von Ortsbildern verhindert das Denken darüber, dass Heimat nicht am gebauten Raum allein festgemacht werden kann. Deshalb braucht es den Verzicht auf den Schutz von Isos-Ortsbildern, weil nur dadurch die nachhaltige Entwicklung des Lebensraumes „Heimat“ gut vorankommen kann.