Spätestens seit der amerikanische Präsident Bush sich mit der Absicht trägt, ein Demokratie-Corps zu schaffen, um „jungen Demokratien bei der Schaffung stabiler Institutionen“ zu helfen, muss sich die Welt wieder einmal Gedanken machen, was denn Demokratie genau ist und welche Werte davon erhaltens- und fördernswert sind.
Demokratie ist – vorerst aus der Worterklärung heraus – „Volksmacht“, „Machtausübung des Volkes“.
In der Praxis alter Demokratien (alt = um die 200 Jahre) geht es um eine Staatsform, die den Interessen-Ausgleich zwischen individuellen und gesamt-gesellschaftlichen Ansprüchen regelt. Weil der ideale kantsche Imperativ – tue andern nur das an, was Du bereit bist zu akzeptieren, wenn andere es Dir antun – offenbar nicht möglich ist, braucht es Spielregeln für das Umgehen miteinander. Dazu gehören:
- Mehrheitsentscheide
- Für Sach- und Personenentscheide sind Mehrheiten erforderlich – mit unterschiedlichen Regeln: von einer relativen Mehrheit der Abstimmenden bis zu qualifizierten Mehrheiten (z.B. 2/3 aller Stimmberechtigten)
- Zum Mehrheitsentscheid gehören zwingend die Minderheitsrechte
- Für eine stabile Demokratie sind wechselnde Mehrheiten von grosser Bedeutung. Erfahrungsgemäss dürfen nicht immer die gleichen Gruppen in der Minderheit sein.
- Demokratie ist die Suche nach der optimalen Unzufriedenheit, die in Abstimmungen eine Mehrheit entstehen lässt.
- Demokratie ist daher die Staatsform des Kompromisses oder der Konkordanz – es müssen sich immer alle relevanten Gruppen etwa ausgeglichen als „Sieger“ und „Verlierer“ betrachten können.
- Das Mehrheitsprinzip kommt zur Anwendung sowohl bei Wahlen für die „Gewalten“/Instanzen und bei Sachentscheiden, und zwar sowohl bei direkten Volksbefragungen als auch bei z.B. Entscheiden von Parlamenten als gewählte Volksvertretung. Möglich sind auch Mischformen.
- „Mehrheit“ heisst: Mindestens eine Stimme mehr als das erforderliche Quorum.
- Daraus ergibt sich als wichtiges Element: Demokratie lässt sich nicht erzwingen, sondern muss von einer grossen Mehrheit gewollt sein! Das Demokratie-Korps von Herrn Bush verträgt sich aus prinzipiellen Gründen nicht mit einer demokratischen Entwicklung. Demokratie lässt sich nur mit und durch Ueberzeugung, nie aber mit Gewalt erreichen.
- die Trennung der „Gewalten“ – Gewaltentrennung
- Legislative (gesetzgebende Kraft), Exekutive (ausführende Kraft) und Judikative (richterliche Kraft) sind voneinander unabhängig. Gelegentlich werden die Medien als vierte Gewalt bezeichnet, weil sie Fragen stellt und Transparenz über die Vorgänge ermöglicht.
- Die Spielregeln des Ausgleichs unter den Gewalten werden in der Regel ebenfalls nach den Prinzipien des Mehrheitsentscheides festgelegt – es ist daher wichtig, dass an solche Spielregel-Entscheide hohe Anforderungen an die Mehrheitsverhältnisse gestellt werden.
- Demokratien müssen zwingend Rechtsstaaten sein, damit einzelne ihre Ansprüche gegenüber der Gesamt-Gesellschaft (und selbstverständlich auch umgekehrt) einfordern können.
- Demokratie ist entstanden aus der Geschichte und der Entwicklung des christlichen Abendlandes, – wie sie beispielsweise in den Menschenrechten zum Ausdruck kommen. Daraus ergibt sich die Frage, ob Demokratie auch ausserhalb dieses Hintergrundes funktioniert. Zu klären ist auch, ob es gewisse Randbedingungen braucht, damit die Demokratie gedeihen kann.
Eine wichtige Triebgrösse des „christlichen Abendlandes“ ist die säkularisierte Prädestinationslehre, abgeleitet aus Elementen der Reformatoren: Wem es gut geht, der oder die hat es verdient!
Demokratie ist ein Schönwetter-Modell
Erfahrungsgemäss funktioniert der gesellschaftliche Ausgleich am besten, wenn der Istzustand nicht in Frage gestellt wird/werden muss und Regeln für die Verteilung des erwarteten oder tatsächlichen Wohlstand-Zuwachses aufgestellt werden können. Auf diese Weise werden alle gesellschaftlichen Gruppen am Wohlstands-Zuwachs beteiligt. Dies funktioniert bestens, wenn die beiden Grössen Bruttoinlandprodukt BIP und Anzahl Erwerbs-Arbeitsplätze gleichartig zunehmen. Da es sich aber bei beiden Grössen nicht um reale Zustands- und Entwicklungsgrössen des komplexen Systems Gesellschaft handelt, ist dieses Schönwetter sehr virtuell – und auf keinen Fall auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet. Weil etwa alle vier Jahre Wahlen stattfinden – ein viel zu kurzer Zeitraum für die Beurteilungen von demokratisch ausgelösten Veränderungen – findet keine echte Wirkungsanalyse der Demokratieentscheidungen statt.
Die Demokratie hat ein Problem mit dem Gewaltmonopol
Oberstes Gut ist das menschliche Leben. im Interessen-Ausgleich muss daher dem menschlichen Leben oberstes Gewicht zukommen. Die Demokratie kann dies allerdings nicht garantieren, sie erlässt Regeln für den Umgang mit Gewalt und reklamiert für sich das Gewaltmonopol. Damit nimmt sich die Demokratie das Recht heraus, in bestimmten Situationen die individuellen Ansprüche ausser Kraft setzen zu können – und zum Beispiel andere Gesellschaften anzugreifen, mit dem Risiko, andere Menschen zu töten, oder Menschen, die das eigene Staatswesen bilden, in den Krieg zu schicken, mit dem Risiko, dabei getötet zu werden. Im Umgang mit Gewalt wird die Demokratie vollständig abgelöst durch diktatur-ähnliche Zustände, in der nicht mehr Mehrheitsentscheide gelten, sondern Einzelentscheide einer exterem hierarchisch aufgebauten Befehlsstruktur.
Beteiligungsrecht versus Beteiligungspflicht
Es ist ein Merkmal von Demokratien, dass sich nur ein Teil des Volkes tatsächlich an den Entscheidungen beteiligt. Die als spektakulär bezeichneten Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse kommen massgeblich dadurch zustande, dass ganze Gruppen von Abstimmenden sich nicht mehr am Entscheidungsvorgang beteiligen, mit welchen Gründen auch immer. Genau wie sehr knappe Mehrheitsverhältnisse ist auch die Nichtbeteiligung auf Dauer kein gutes Zeichen für den Zustand eienr Demokratie.
Demokratien sind langsam – und bevorzugen die Zechprellerei
In einer Demokratie kann nur umgesetzt werden, was mehrheitsfähig ist. Wenn der Istzustand in Frage gestellt wird, ohne dass die negativ betroffene Gruppe einen entsprechenden Gegenwert erhält, braucht es einiges, um Mehrheiten zu verändern. Zum Schutz des globalen Klimas ist eine deutliche Verminderung des CO2-Ausstosses erforderlich – auch wenn diese Erkenntnis naturwissenschaftlich bestens begründet ist, sind zur Umsetzung der Vorgaben Massnahmen erforderlich, die jede und jeden betreffen. Und weil jede und jeder den Eindruck hat, weniger stark an den übermässigen Treibhausgas-Emissionen beteiligt zu sein als andere, und darum auch weniger Reduktion erbringen zu müssen als andere, dürften Mehrheitsentscheide für wirksame Massnahmen noch lange auf sich warten lassen.
Bildich: Wenn sich eine Gesellschaft so eingerichtet hat, dass sie sich in dieser Welt als Zechprellerin verhält, wird es schwierig sein, diese Gesellschaft von der Bequemlichkeit des Zechprellerwesens abzubringen und die Bezahlung der vollen Kosten durchzusetzen.
Nachtrag 12. Mai 2008: darauf weist auch Markus Arnold, Präsident der CVP Zürich und Ethiker in einem Kurz-Interview im TA-Online hin, wenn er vor der Abstimmung über die SVP-Einbürgerungs-Initiative darauf hinweist, dass Demokratie nicht zur Herrschaft des Pöbels werden dürfe (mit Bezug auf Aristoteles): es besteht das Risiko, dass dabei Leute, die keine Verantwortung übernehmen, die Mehrheit bilden können und nur noch ihre Interessen durchsetzen wollen.
Anonym und perspektivenlos
Je älter Demokratien werden, desto stärker anonymisiert sich die Verantwortung. Das komplizierte Regelwerk begünstigt die Drei-Affen-Haltung: ich höre nichts, ich sehe nichts, ich sage nichts. Weil Demokratien nur nachvollziehen, was gesellschaftlich mehrheitsfähig ist, wirken insbesondere alternde Demokratien ziemlich perspektivenlos.
Demokratie oder Plutokratie?
Da Staaten sehr gross sein können, Wahlen aber auf der Bekanntheit von Gruppen und den sie vertretenden Köpfen angewiesen sind, ist Marketing eines der zentralen Instrumente zur Meinungsbildung in Demokratien. Um Marketing-Massnahmen wirkungsvoll zu gestalten, sind erhebliche Geldmittel erforderlich, damit Wahlen und Abstimmungen gewonnen werden können. Moderne Demokratien sind also in erheblichem Mass durch die Geldflüsse von Einflussgruppen geprägt. Einzelne sehr finanzkräftige Personen oder Gruppen können also erheblichen Einfluss auf die Demokratie nehmen – was die Demokratie von der Macht des Volkes zur Geldherrschaft oder Plutokratie werden lässt. Es ist zu befürchten, dass bereits eine ganze Reihe von Gesellschaften, die sich als Demokratien bezeichnen, in Wirklichkeit längst Plutokratien sind – ganz vorne dabei sicher die USA!
Weiterentwicklung der Demokratien
Viele Elemente der Demokratie sind wertvoll und müssen erhalten bleiben. Auch wenn in Demokratien viel von Freiheit und insbesondere Verantwortung gesprochen wird: Freiheit ist ein ausgesprochen abstrakter Begriff – und im gesellschaftlichen Zusammenleben muss die individuelle Freiheit zwingend so eingeschränkt werden, dass dadurch die Freiheit anderer gewährleistet bleibt. Auch mit der Verantwortung ist es etwas schwierig: Verantwortung setzt einen geschlossenen Regelkreis voraus: Verantwortung kann nur dann übernommen werden, wenn die entscheidende Person direkt die Folgen der Entscheidung zu tragen hat. Es ist ohne weiteres einzusehen, dass dies bei demokratischen Entscheiden in den wenigsten Fällen möglich ist.
Die Demokratie ist wie oben dargelegt eine Form des Interessen-Ausgleichs zwischen individuellen und gesamtgesellschaftlichen Ansprüchen, die auf dem Mehrheitsprinzip beruht. Das heisst, dass nicht die Interessen des Gesamten (der Erde z.B.) im Zentrum stehen, sondern die Interessen einer Mehrheit des demokratischen Systems in einem Land. Die Demokratie muss Entscheidungsmechanismen entwickeln, um vermehrt die Interessen des Gesamtsystems Erde in den Vordergrund zu stellen. Demokratien brauchen Instrumente, um beurteilen zu können, ob Entscheide im Interesse des Gesamtsystems Erde liegen oder ob es sich bloss um zufällig zusammengegestellte mehrheitsfähige Gruppenegoismen handelt.
Dieses System könnte als „anarchistische Monarchie“ bezeichnet werden. Jede und jeder einzelne muss sich so verhalten, wie wenn er oder sie als König/Königin verantwortlich wäre für das Wohlergehen des gesamten Planeten. Nicht als SonnenkönigIn und der Grundhaltung „Nach mir der Weltuntergang“, sondern als wissende und verstehende, ehrliche und selbstkritische Person, die aus Freude über die wunderbare Erde und ihre BewohnerInnen alles daran setzt, diesen herrlichen Planeten unversehrt in seiner vollen Pracht an zukünftige Generationen zur wohlwollenden Obhut weitergeben zu können.